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Seine Krankheit hat Walter Geis längst im Griff. Schon seit vielen Jahren macht die Aphasie-Selbsthilfegruppe Rhön-Grabfeld, deren Vorsitzender er ist und die nun ihren 20. Geburtstag feiert, anderen Betroffenen und Angehörigen Mut. Foto Partl - Foto: Gerlinde Partl
10.12.09 - Bad Neustadt-Herschfeld
Für einen Aphasiker ist nichts mehr selbstverständlich
Das Gehirn meint „ja“, aber der Mund sagt „nein“. Der Kopf denkt „heiß“, aber die Lippen formen „kalt“. Für einen Aphasiker ist nichts mehr selbstverständlich. Nichts ist mehr, wie es vor der Krankheit war. Nicht selten steht ein Aphasiker plötzlich vor dem Nichts.
Den 3. März 1987 kann Walter Geis aus Herschfeld bis heute nicht vergessen. Auch wenn er sein persönliches Drama mittlerweile sehr gut bewältigt hat. Wer heute mit ihm spricht, kommt niemals auf den Gedanken, dass auch er von heute auf morgen zum Aphasiker wurde. Sprechen, Lesen, Schreiben und Rechnen, – alles klappt wieder wie vor der Erkrankung. Dabei hat ihm der damals erlittene Gehirnschlag all diese Fähigkeiten genommen. Einfach ausgelöscht. Alles war weg.„Von einem Tag auf den anderen war ich plötzlich ein Nichts“, erinnert er sich. Heute kann er sogar wieder lächeln darüber. Die Diagnose der Ärzte damals lautete „Schwerer Gehirnschlag mit Gehirnblutung und halbseitiger Lähmung“. Der 3. März 1987 hatte aus Walter Geis einen völlig hilflosen Menschen gemacht. Einen Aphasiker.
„Man wird ganz klein dabei“, erinnert er sich heute „Sprechen, Verstehen, Lesen, Schreiben und Rechnen – alles wird plötzlich zu einem Riesenproblem“. Der Neuanfang war hart. Nach der Erstbehandlung im Krankenhaus Bad Neustadt kam Walter Geis in die auf solche Fälle spezialisierte Rehabilitationsklinik nach Gailingen Wie ein ABC-Schütze trainierte er den Weg in die neue Zukunft. In ganz kleinen Schritten nur ging es voran. Nicht einmal den eigenen Namen konnte er anfangs mehr schreiben. Mit ungeschicktem Gekritzel ging es los. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Buchstaben wieder gerade und einigermaßen regelmäßig nebeneinander standen. Heute kann Geis darüber schmunzeln, dass er mit seinen Enkeln zusammen die Hausaufgaben machte und das kleine Einmaleins trainierte.
Geis erinnert sich mit Schrecken, dass er sogar Farben nicht mehr unterscheiden konnte. Doch ihn packte der Ehrgeiz, er wollte wieder in seinen alten Beruf zurück. Das hat er dann doch nicht mehr geschafft. Er musste alles erst einmal neu lernen. Eine sehr schlimme Zeit, die immer wieder auch Depressionen nach sich zog. Wie bei nahezu allen Betroffenen. Der Kopf, das Denkvermögen, habe normal funktioniert. So merkte er sofort, wenn wieder einmal das falsche Wort aus dem Mund flutschte, das richtige zwar im Kopf war, aber nicht den Weg durch die Lippen fand. „Die Leute denken dann schnell, man wäre blöd. Fatal daran ist, dass man selbst seine Fehler bemerkt, aber nicht ändern kann“.
„Die Sprache zu verlieren ist genau so grausam wie eine Isolationshaft. Sich nicht mehr mit eigenen Worten verständigen zu können, berührt stark die persönliche Würde“. Aufzuwachen und plötzlich nicht mehr sprechen zu können ist die schreckliche Erfahrung, die jeder Aphasiker durchmacht. Angehörige möchten mit dem Betroffenen sprechen, erhalten aber keine verständliche Antwort. Der Betroffene schaut einen an, versucht Worte zu formen, deutet mit den Händen und bringt nur unverständliche Laute hervor. Was ist passiert? Ärzte diagnostizieren eine Aphasie, in den meisten Fällen hervorgerufen durch Schlaganfall oder Hirnschlag.
Das Wort Aphasie stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Ohne Sprache“. Aphasie hat nichts mit geistiger Behinderung oder psychischer Störung zu tun. Die Krankheit verändert die sprachliche Kommunikationsfähigkeit, während die Denkfähigkeit in aller Regel nicht beeinträchtigt ist. Aphasiker können nach wie vor logisch denken und Situationen richtig erfassen und beurteilen. Sie haben mehr oder weniger große Schwierigkeiten beim Sprechen, Verstehen, Rechnen, Schreiben und Lesen. Mitbetroffen sind häufig auch Gestik und Mimik.
Körperliche Begleitsymptome führen nicht selten zu psychosozialen Konflikten: Partnerschaften zerbrechen, Freunde und Bekannte ziehen sich zurück, der Arbeitsplatz geht verloren. Ängste, Unsicherheiten, depressive Verstimmungen bis hin zu Aggressionen prägen den Alltag. Ein Riesenfortschritt war daher die Gründung der Aphasiker-Selbsthilfegruppe für den gesamten Landkreis Rhön-Grabfeld, die von Walter Geis geleitet wird und am morgigen Donnerstag ihren 20. Geburtstag im Schützenhaus Bad Herschfeld, feiert. Der heute 73jährige führt wieder zufrieden ein ganz normales Leben. Er hat die Krankheit in den Griff bekommen: mit sehr viel Ehrgeiz, mit enormer Willenskraft und auch sehr viel Glück, wie er gerne eingesteht. +++(ger)