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Tage des Aufbegehrens: Wenn der Geduldsfaden gerissen ist
10.01.24 - Es gibt in diesen Tagen nicht wenige Menschen, die erkennen sich und den vielfach als "Michel" karikierten und müde belächelten Bundesbürger nicht wieder. Wie oft hatte man in der Vergangenheit gehört, die Deutschen sollten nicht nur vor sich hin grummeln, sondern sich ein Beispiel an den Franzosen oder Italienern nehmen und "auf die Straße" gehen.
Und nun das: Die Landwirte - auch in Osthessen - sind seit Montag demonstrierend landauf landab mit ihren Traktoren unterwegs und legen den Verkehr auch auf nicht angemeldeten Trassen lahm. Um Kundgebungen zu veranstalten oder um nach Wiesbaden und Berlin zu fahren. Dort, wo diejenigen sitzen, die ihre politischen Interessen vertreten sollten.
Warum plötzlich diese machtvolle Demonstration von PS-Stärken und des Wortes? Die Bauern stehen stellvertretend dafür, dass sich in der deutschen Gesellschaft etwas zu verändern scheint. "Spiegel online" hat am Mittwoch von der "Lust" geschrieben, das Land zu blockieren und eine neue Protestkultur ausgemacht.
Schon früher gegen Adel und Obrigkeit
Ist das wirklich so? Dass parallel zu den Landwirten in dieser Woche die Lokführer streiken und damit für drei Tage den bundesweiten Bahnverkehr zu einem großen Teil lahmlegen, ist nichts überraschend Neues. Doch dieses Auf- und Widerstehen der Bauern, das man nicht unbedingt hat erwarten können, besitzt tatsächlich eine andere Qualität. Es zeigt, dass selbst die Geduldigsten irgendwann einmal aufbegehren, wenn aus ihrer Sicht das Maß voll ist. Wobei - auch daran sollte man sich in diesen Tagen erinnern - Bauern schon immer auf die Barrikaden gegangen sind, wenn es einst gegen "die da oben" ging. Sprich: gegen Adel und Obrigkeit.
Ich glaube, dass es schon seit Langem unter den Landwirten gärt und der Streit um Kfz-Steuer und Agrardiesel nur der berühmte Tropfen gewesen ist, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Die Bauern dürfen sich bei ihrem Protest der Solidarität derjenigen sicher sein, denen das - zugegeben - meist stümperhafte Regieren der "Ampel" ein Dorn im Auge ist. Gleichwohl ist auch in den Jahren vor 2021 eine verfehlte Politik gemacht und die Basis dessen gelegt worden, gegen das in diesen Tagen demonstriert wird.
Abgrenzung gegen Rechts
Sich dabei gegen rechte Tendenzen und Beeinflussung abzugrenzen, ist richtig, denn nichts wäre schlimmer, als wenn die Bauern von anderen dazu missbraucht würden, deren politisches Süppchen zu kochen. In diesem Zusammenhang muss auch gesagt werden, dass solche Vorfälle wie die Anfeindungen gegen Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck vor Kurzem in Schleswig-Holstein jegliche Regeln von demokratischer Protestkultur verletzen. Dem politisch Andersdenkenden begegnet man mit Argumenten und nicht mit Aggression.
Natürlich gibt es auch Menschen, bei denen die blockierenden Aktionen der Landwirte nicht auf Gegenliebe stoßen. Solche, die schimpfen, weil sie entweder hinter den vielen Traktoren im Stau stehen oder aber solche, die sich aufregen und meinen, die Bauern klagten auf hohem Niveau. Dabei wird leicht übersehen, dass der Protest immerhin schon einiges gebracht hat: Zugeständnisse seitens der Bundesregierung (was freilich auch als abermaliges Zeichen von Schwäche ausgelegt werden kann) und ein verändertes (Selbst)-Bewusstsein des bäuerlichen Standes: "Gemeinsam sind wir stark. Wir können stolz auf uns sein".
Es bleibt abzuwarten, ob sich diese neue Protestkultur im Land etabliert und weitere Schichten erfasst. Neben den Landwirten brodelt es unter anderem bei den Gastronomen, die in der zum Jahresbeginn wieder auf 19 Prozent angehobenen Mehrwertsteuer den Todesstoß für viele Lokalitäten - gerade auch in ländlichen Regionen - sehen. Weitere Branchen sind unzufrieden, sodass der "Ampel" ein ungemütliches Frühjahr ins Berliner Haus stehen dürfte. Ob sich in Deutschland ähnlich wie in Frankreich eine "Gelbwestenbewegung" etabliert, die landesweite Proteste initiiert, sei dahingestellt. (Bertram Lenz) +++