Der Arbeitsmarkt auch mit Blick auf inklusives Arbeiten. - Foto: Antonius/Marzena Seidel

FULDA Schwellen überwinden

Arbeitsmarkt gefordert: Mit dem Berufswegekonzept raus aus der Sackgasse

17.01.24 - Die Arbeitswelt in Deutschland ist nicht inklusiv. Die Situation ist auch 14 Jahre, nachdem Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert und in nationales Recht umgesetzt hat, ernüchternd. Antonius und das Unternehmernetzwerk Perspektiva gehen zusammen mit Kooperationspartnern wie der Agentur für Arbeit alternative Wege – mit Erfolg.

Am Kloster Frauenberg. Foto: Antonius/Marzena Seidel

Im Jahr 2023 waren in Deutschland 163.507 Menschen mit anerkannter Schwerbehinderung arbeitslos. Das entspricht einer Quote von 10,8 Prozent, während auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zeitgleich nur 5,7 Prozent ohne Job waren – trotz Ausgleichsabgabe. Diese muss von Unternehmen entrichtet werden, die nicht oder nur teilweise Schwerbehinderten einen Arbeitsplatz anbieten. Dem Gesetz zufolge müssen Arbeitgeber fünf Prozent ihrer Stellen mit schwerbehinderten Menschen besetzen, sobald sie insgesamt mehr als 20 Mitarbeiter beschäftigen. Für Betriebe ab 60 Mitarbeiter hat sich die Abgabe seit Jahresbeginn verdoppelt. Im vergangenen Jahr haben nur 39 Prozent der Unternehmen alle Pflichtarbeitsplätze besetzt und 74,1 Prozent mindestens einen.

Behindertenwerkstätte überwiegend gescheitert

Mit Blick auf ganz Deutschland führt der am häufigsten gewählte Weg von der Förderschule nahtlos in eine Werkstatt. Dort sollte er allerdings nicht enden, weil dies allzu oft eine Sackgasse für die jungen Menschen bedeutet. Die Quote für die Vermittlung aus der Werkstatt auf den allgemeinen Arbeitsmarkt liegt auf Bundesebene aktuell bei 0,35 Prozent. Die Beauftragten des Bundes und der Länder für Menschen mit Behinderung haben in ihrer Erfurter Erklärung vom 4. November 2022 deshalb auch ernüchtert festgestellt: "Der Auftrag der Werkstätten, den Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu fördern, (…) wird überwiegend als gescheitert angesehen."

Individuelle Berufswegeplanung ausgerichtet an Interesse und Potenzial

Foto: Antonius/ Maximilian Fischer

Das Berufswegekonzept der Arbeitsschule "Startbahn" und des Unternehmernetzwerks Perspektiva sieht hingegen eine individuelle Berufswegeplanung vor, ausgerichtet an den Interessen und dem Potenzial der jungen Menschen. Durch passgenaue und personenzentrierte Angebote orientieren und qualifizieren sich die jungen Menschen und entwickeln verschiedene Möglichkeiten, eine Ausbildung zu beginnen oder einen regulären Arbeitsplatz einzunehmen. Dazu zählen:

- Arbeiten im Partnerbetrieb
- betriebliche Qualifizierung
- Budget für Ausbildung/Budget für Arbeit
- theoriereduzierte Ausbildung oder Vollausbildung
- oder ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis.

In der "Startbahn" im Quartier von antonius werden die Schülerinnen und Schüler zunächst drei Jahre lang auf die Arbeitswelt vorbereitet. In Form von Betriebsbesichtigungen, Expertengesprächen, Praktika oder berufsbezogenen Lerneinheiten. Der enge Kontakt zum Unternehmernetzwerk, das mehr als 100 Firmen und damit eine Vielzahl an Branchen umfasst, ermöglicht es den Jugendlichen, sich von Anfang an praktisch zu erproben. Ziel ist immer, dass dieser Weg in eine Ausbildung oder eine dauerhafte Beschäftigung mündet. Damit ist die Basis gelegt für finanzielle Unabhängigkeit, eine dauerhafte Lebensperspektive und mehr Selbstbestimmung.

Das Unternehmernetzwerk Perspektiva hat seit 2018 – also in den vergangenen fünf Jahren – 220 Jugendliche erfolgreich weitervermittelt, davon 39 in eine unbefristete sozialversicherungspflichtige Arbeitsstelle und 77 in Ausbildung. Weitere 22 Jugendliche haben ihren Hauptschulabschluss erworben. Ein Schulabschluss zählt nach wie vor zu den wichtigsten Voraussetzungen, um auf dem Arbeitsmarkt überhaupt Fuß fassen zu können.

Im Jahr 2020 wurde bundesweit das "Budget für Ausbildung" eingeführt. Es soll jungen Menschen, die normalerweise eine Beschäftigung in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen aufnehmen würden, den Weg in den allgemeinen Arbeitsmarkt ebnen. Über das Budget wird unter anderem die Ausbildungsvergütung finanziert sowie die Anleitung und Begleitung am Ausbildungsplatz und in der Berufsschule. Leistungsträger ist in der Regel die Agentur für Arbeit, umgesetzt wird es von Einrichtungen wie Perspektiva. Und diese Fuldaer Kooperation ist hessenweit erfolgreich und beispielgebend. Von neun Teilnehmern des "Budget für Ausbildung" im Bezirk der Agentur für Arbeit Bad Hersfeld-Fulda werden sieben von Perspektiva betreut.

Ziel all dieser Bemühungen ist es, zusammen mit den Jugendlichen eine Lebensperspektive zu entwickeln, sie selbständiger zu machen, damit sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen können. Aber auch die Gesellschaft profitiert davon, wenn mehr und mehr Jugendliche später auf eigenen Füßen stehen. Denn in solchen Fällen werden Kosten für den Werkstattaufenthalt gespart und stattdessen sogar Steuern und Sozialversicherungsbeiträge entrichtet – eine Win-Win-Situation für die jungen Menschen und die Gesellschaft insgesamt.

Das lässt sich anhand eines Fallbeispiels illustrieren. Marlene S., 29 Jahre alt, hat das Down-Syndrom. Nach zehn Jahren in der Förderschule wechselte sie in die Arbeitsschule Startbahn. Hier lernte sie ihre Talente und Stärken kennen. Mit Unterstützung durch Startbahn und Perspektiva erwarb sie Teilqualifikationen in der Holzverarbeitung und arbeitet mittlerweile als Holzlackiererin in einer Schreinerei. Sie lebt selbständig in einer Wohnung in Fulda, fährt mit dem Stadtbus an die Arbeit und möchte den Führerschein erwerben.

Für die junge Frau ergeben sich drei Möglichkeiten:

1.    Ein Partnerbetrieb von Perspektiva übernimmt sie in einer dauerhafte Beschäftigung, sie behält aber den Status als Werkstattbeschäftigte. Der Kostenträger spart in diesem Fall gegenüber der Werkstattlösung jährlich 10.000 Euro.

2.    Sie wird über das Programm "Budget für Arbeit" in einem Betrieb als reguläre Arbeitskraft eingestellt. Damit kann sie auf den ersten Arbeitsmarkt wechseln oder zurück in die Werkstatt gehen. Die junge Frau erhält eine Begleitung am Arbeitsplatz, der Arbeitgeber einen Lohnkostenzuschuss. Trotzdem ist der Aufwand dafür rund 4500 Euro geringer als die Werkstattlösung. Außerdem zahlt die Frau Steuern und Sozialversicherungsbeiträge.

Über das "Budget für Ausbildung" absolviert die Frau eine anerkannte Ausbildung in der Schreinerei. Sofern erforderlich erhält sie von Perspektiva eine Assistenz. Nach der Lehre wird sie als Fachkraft beschäftigt. Das spart jährlich Kosten in Höhe von 19.400 Euro für die Werkstatt. Außerdem verdient sie ihren Lebensunterhalt selbst, erfährt dadurch eine Selbstbestätigung und zahlt außerdem noch Steuern und Sozialversicherungsbeiträge. (pm) +++


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