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Deutschland in der Krise: Arbeit für mittlere Einkommen lohnt nicht
21.02.24 - Alljährlich präsentiert die Volksbank Lauterbach-Schlitz in ihrer Mitgliederversammlung ihr vergangenes Geschäftsjahr. Ebenso ist es Tradition, hochkarätige Gastredner für diese Veranstaltungen zu gewinnen - diesmal: Prof. Clemens Fuest, Präsident des Ifo-Instituts, das unter anderem den ifo-Geschäftsklimaindex herausgibt. Ein wesentlicher Pfeiler der deutschen Wirtschaftsforschung.
Das Jahr 2023 war geprägt von multiplen Krisen, das deutsche Wirtschaftswachstum stagnierte. "Als regionale Bank ist das Arbeiten sehr schwer im Moment", erklärten Norbert Lautenschläger und Alexander Schagerl bereits vorab im OSTHESSEN|NEWS-Gespräch. Besondere Problemlagen: Etwa eine "überbordende Regulatorik", eine Europäische Zentralbank, die lange die Inflation verschlafen habe und natürlich der Fachkräftemangel. "Wir sind mittlerweile das Schlusslicht Europas", summiert der Vorstand.:
Fuest: "Wir sind sogar ärmer als 2019" In eine ähnliche Kerbe schlägt auch Fuest: "Wir sind sogar ärmer als 2019", erklärte er den Versammelten mit Blick auf die Entwicklung der Kaufkraft. Regelmäßig fragt sein Institut Unternehmen: "Was erwarten sie in den nächsten sechs Monaten?" und "Wie ist die aktuelle Geschäftslage?". In den Antworten sehe man einen Abwärtstrend, der seit nun über zwei Jahren anhalte. Eine Gefahr für den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Weggang von energieintensiven Industrien ist zu erwarten Der Einkaufstopp für Gas aus Russland habe immense Auswirkungen auf die Energiepreise und somit auf energieintensive Unternehmen wie Metall- und Chemiekonzerne. Diese machen in Deutschland etwa 14 Prozent der Industrie aus. "Angenommen, die Hälfte davon schließt, dann wäre das ein Minus von 7,5 Prozent unserer Wirtschaft", sagte er. Deutschland werde das verkraften können, auch wenn es um sehr viel Geld, Arbeitsplätze und Schicksale gehe. Besorgniserregend sei eben, dass sich viel mehr Sparten im Abwärtstrend sehen.
Konkurrenzfähigkeit im Strompreis ist nicht zu erreichen Das Problem wegzusubventionieren, wie oft mit dem Industriestrompreis - oft auch Brückenstrompreis genannt - gefordert wird, sei kaum machbar. "Es ist unrealistisch, dass wir trotz mehr erneuerbaren Energien auch konkurrenzfähige Strompreise haben werden", so Fuest. Das habe eine Vielzahl an Gründen. Man dürfe nicht den Fehler, den man schon beim Kohlestrom gemacht habe, wiederholen. Der sei auch nie wettbewerbsfähig geworden. "Um im Bild zu bleiben: Die Brücke führt ins Nichts".
Deutschlands Geheimformel: Seine "Hidden Champions" Er schlussfolgert: "Wir müssen uns anpassen". Und dabei lasse sich nicht prophezeien, wohin diese Transformation gehen muss. Eine von Deutschlands Stärken liege in seinen "Hidden Champions", den mittelständischen Unternehmen. "Sie sind Weltklasse in der Nische", erklärt er und eine "wahre Besonderheit". Von 3.500 dieser "Hidden Champions" haben 1.500 ihren Sitz hier in Deutschland. Arbeitskräftemangel und Bürokratie dürfe Initiativen dieser Player nicht erdrücken. Es brauche eine Infrastruktur und ein Steuerwesen, dass sie fördere.
Fuest fordert Arbeitsanreize für mittlere Einkommen Und noch mit einer weiteren ernüchternden Analyse wartete Fuest auf. "Für mittlere Einkommen lohnt es sich nicht, mehr zu arbeiten". Ein Ehepaar mit zwei Kindern und einem Bruttoeinkommen von 3.000 Euro, also einem Stundenlohn von 20 Euro bei einer 37,5-Stunden-Woche, habe etwa, wenn es in der Woche nun 25 Stunden mehr arbeite, nur einen Anstieg im verfügbaren Einkommen von 32 Euro (0,32 Euro pro Stunde) bei einem Bruttolohnanstieg von 1.000 Euro. "Das liegt an Sozialleistungen, die auf Sozialleistungen gehäuft wurden", erklärt er und setzt nach: "Das können wir uns bei einem Arbeitskräftemangel nicht leisten". Die gute Nachricht dabei: Das lasse sich ändern und hätte einen immensen Effekt, selbst wenn nur ein kleiner Teil mehr arbeiten würde. "So könnten wir den Gegenwind für das Wachstum mildern".
Unsicherheit in Deutschland so hoch wie in Großbritannien zur Zeit des Brexits Der dritte und ebenfalls ein wesentlicher Faktor für die deutsche Wirtschaft: Unsicherheit, wo die Politik hin will, findet Fuest. Diese nehme merklich zu. "Studien zeigen: Die wirtschaftspolitische Unsicherheit in Deutschland ist explodiert und aktuell Großbritannien zur Zeit des Brexits ähnlich". Und das habe wirtschaftliche Folgen. Was es brauche, sei in Konzept für die Zukunft. Das fehle in Deutschland, auch schon zu Zeiten der Vorgängerregierung. "In ruhiger See ist egal, wer der Kapitän ist. Im Sturm kommt es auf den Kapitän an und wir haben keinen - oder drei", erklärt er.
Überbordender Bürokratie muss begegnet werden Zuletzt thematisierte Fuest das "außerordentliche Bürokratieproblem", das Deutschland habe und Ergebnis einer fehlgeleiteten Gesetzgebung sei. "Wir müssen jetzt darüber nachdenken, welche Gesetze wir abschaffen oder vereinfachen können", sagt er und setzt nach: "Es gibt Gesetze, wenn die morgen verschwinden würden, würde uns nichts fehlen". Fuests Fazit: "Wir stehen tatsächlich vor ernsthaften Schwierigkeiten, aber wenn wir uns in der Welt umschauen, haben wir auch wirklich Stärken. Ich glaube, es würde Deutschland guttun, wenn wir wieder mehr Sachlichkeit in der Politik hätten". (Moritz Bindewald) +++