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75 Jahre Grundgesetz: Als Bad Brückenau Geschichte schrieb
22.05.24 - Gleich zweimal in diesen Tagen sah sich Bad Brückenaus zweiter Bürgermeister Jürgen Pfister gedrängt, ja regelrecht dazu genötigt, in offiziellen Statements auf Historisches zu verweisen. Und das aus mehreren, aus mehr als guten geschichtlichen Gründen.
Zum Einen lag die Wahlbeteiligung bei beiden Bad Brückenauer Bürgermeisterwahlen im April und Mai nur um die 50 Prozent - bei der Stichwahl unlängst sogar unter der beschämenden Hälfte. Zum Anderen blickt der langgediente Lokalpolitiker auf ein Dreivierteljahrhundert Lebensjahre und damit genug an Erfahrung zurück, um über das Regionale hinaus auf Größeres zu blicken.
Zumal grundlegende Fundamente unseres Staatswesens - und dazu gehört als wesentlicher Bestandteil unter anderem das Wahlrecht (oder sollten wir nicht besser von Wahlpflicht sprechen…) - auch in Pfisters Heimatstadt gelegt wurden. Die Rede ist vom Grundgesetz, das am heutigen 23. Mai seinen 75. Geburtstag feiert, die Basis "as its best" für unser Zusammenleben in einem freien und demokratischen Rechtsstaat. Und an dieser Verfassung ist auch Bad Brückenau wesentlich beteiligt, denn der darin verankerte Name "Bundesrepublik Deutschland" wurde in der unterfränkischen Kleinstadt sozusagen "erfunden", erstmals vor-bestimmend genannt.
Hier also die historischen Hintergründe (unter anderem noch ausführlicher nachzulesen auf der Website des "Dorint-Hotels", des Stadtarchivs von Bad Brückenau, im Historischen Lexikon Bayerns sowie der Arbeitsgemeinschaft der Autographensammler), quasi die Geschichten hinter den herausragenden Ereignissen, als beginnend im April 1948 bis final im Mai 1949 in der bayerischen Rhön bundesrepublikanische Geschichte geschrieben wurde. Was vielleicht, nein: hoffentlich (!), die Nichtwähler-Hälfte (oder zumindest den Einen oder die Andere davon) dazu animieren könnte, bei der anstehenden Europawahl ihr im Grundgesetz verankertes und verbrieftes Wahl-Recht zur Wahl-Pflicht zu machen.
Die "Erfindung" der "Bundesrepublik Deutschland"
Kaum jemandem ist es bekannt - und doch ist es historisch belegt: Im Parkhotel Bad Brückenau wurde vor 76 Jahren vereinbart, dass die neue westdeutsche Demokratie den Namen «Bundesrepublik Deutschland» tragen sollte. Die Atmosphäre des damaligen Politiker-Treffens lässt sich auch heute noch spüren, betritt man den berühmten Kuppelsaal.Das historische Parkhotel hat seit seiner Fertigstellung im Jahre 1901 schon viele illustre Gäste gesehen. So ließen sich hier beispielsweise Stars wie Chris de Burgh, Joe Cocker, Peter Krauss oder Steffi Graf bewirten. Doch selbst in dem Kurort wissen nur wenige "interessierte Insider", dass hier Geschichte geschrieben wurde.
Geschichte, die heute noch täglich relevant ist. Denn im jetzigen "Dorint Resort & Spa Bad Brückenau" trafen sich am 13. April 1948 hochrangige Politiker des Ellwanger Kreises, um über die Struktur des künftigen deutschen Staates zu beraten. Und eben bei dieser Gelegenheit fiel damals erstmals auch der Name «Bundesrepublik Deutschland».
Die etwa 60, ausschließlich männlichen Teilnehmer saßen im denkmalgeschützten Kuppelsaal des Hotels zusammen, während vermutlich die dicken Rauchschwaden ihrer Zigarren in die Luft stiegen. Und genau in diesem prächtigen Jugendstil-Ambiente war es, wo Konrad Adenauer das Fundament für seine spätere Kanzlerschaft legte. Nur ein einziges Mal tagte der "Ellwanger Kreis" außerhalb Ellwangens, einer Kleinstadt in Baden-Württemberg.
Doch dieses Treffen war das mit Abstand bedeutungsvollste. Und es war auch das einzige Mal, dass Adenauer daran teilnahm. Ursprünglich setzte sich der Ellwanger Kreis aus Ministern und Staatssekretären von CDU und CSU aus den süddeutschen Länderregierungen der amerikanischen Besatzungszone (Bayern, Baden-Württemberg, Hessen) zusammen. Adenauer hingegen vertrat die britische Besatzungszone des Rheinlands und reiste auf noch von Kriegsschäden gezeichneten Straßen von seinem Wohnort Rhöndorf bei Bonn an.
Brückenau war ganz gut gelegen für dieses Treffen, es befand sich sehr zentral in Deutschland, erläuterte Stadtarchivar Roland Heinlein. Außerdem sei im Bad im Winter und zeitigen Frühjahr nur wenig los gewesen, so dass man sich hier treffen konnte, "ohne es an die große Glocke zu hängen." Und um Diskretion muss es den Teilnehmern in erster Linie gegangen sein, denn sie hatten Brisantes zu bereden: Es ging ihnen um nicht weniger als die Neuordnung Deutschlands mit föderaler Struktur… - und das unter Ausschluss der ostdeutschen Länder in der sowjetischen Zone.
Bei dem Treffen war nämlich kein einziger Vertreter der SPD dabei, die eine Teilung Deutschlands um jeden Preis verhindern wollte. Was besprochen wurde, sickerte dennoch durch. Im «Sozialdemokratischen Pressedienst» vom 21. April 1948, der im Stadtarchiv von Bad Brückenau einzusehen ist, heißt es: "Die Besprechungen wurden um den von dem »Ellwanger Kreis» aus erarbeiteten Verfassungsentwurf geführt. Dieser Entwurf sah vor, dass Deutschland ein Bundesstaat mit der Bezeichnung «Bundesrepublik Deutschland» sein soll." Die Bezeichnung «Deutsches Reich» erschien Allen nicht mehr als angemessen.
Ein offizielles Protokoll des Treffens im Kuppelsaal existierte nicht, berichtete später Lokalhistoriker Erhard Belz von der «Arbeitsgemeinschaft der Autographensammler» (AdA): "Es gab nur Mitschriften einzelner Teilnehmer. Die ausführlichsten Notizen machte sich der CDU-Politiker Walter Strauß, der ein mehrseitiges Dokument hinterließ." Der Hesse Strauß gehörte dem Länderrat des amerikanischen Besatzungsgebietes an und wurde später Staatssekretär im Bundesjustizministerium. Seine Niederschrift mit dem Titel «Grundsätze für eine Deutsche Verfassung» befindet sich im Archiv der Konrad-Adenauer-Stiftung. Und auch hier steht: "Deutschland soll ein Bundesstaat mit der Bezeichnung «Bundesrepublik Deutschland» sein. Die Gliedstaaten des Bundes sind die Länder." Dieses umfangreiche Dokument des "Ellwanger Kreises" sei trotz seiner geschichtlichen Bedeutung auch heutzutage weitestgehend unbekannt, sagt Belz.
Auch über die «Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Länder(n)» und die «Organisation der Bundesgewalt», also die Gewaltenteilung, berieten die Politiker seinerzeit in Bad Brückenau ausführlich und formulierten einen sehr konkreten Entwurf: "Dieser Vorschlag nahm die Regelungen des Grundgesetzes im Wesentlichen vorweg", schrieb dazu der Rechtswissenschaftler und Professor für Völkerrecht, Bardo Fassbender, von der Universität St. Gallen.
Mit ihrem klaren Bekenntnis zum Föderalismus gingen die "Grundsätze" indes nicht ins Detail, legten wohl aber die großen Linien einer zukünftigen Bundesverfassung fest. Nicht zuletzt sahen sie auch die Aufnahme der Menschenrechte in die bundesdeutsche Verfassung vor. Dieser Entwurf wurde also am 13. April 1948 in Bad Brückenau, der am stärksten besuchten und einzigen Tagung außerhalb Ellwangens, unter Anwesenheit Konrad Adenauers, des fast vollzähligen bayerischen Kabinetts und zudem auch von Vertretern aus der französischen Zone eingehend diskutiert.
Adenauer konnte gestärkt aus der unterfränkischen Rhön nach Hause ins rheinische Rhöndorf fahren. Im September 1948 wurde er zum Präsidenten des Parlamentarischen Rates gewählt und trat damit vollends ins Rampenlicht der deutschen Nachkriegspolitik. Vor 75 Jahren, am 23. Mai 1949, verkündete er das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland…, und am 15. September 1949 wurde er schließlich zum ersten deutschen Bundeskanzler gewählt.