Ein Ort für die Lebenden und die Toten - der jüdische Friedhof
16.07.24 - In Deutschland ist das so eine Sache mit dem Verhältnis von Juden und Christen. Die Geschichte trennt uns nicht, aber sie zwingt uns zur Auseinandersetzung und zum gleichzeitigen Blick in die Zukunft und die Vergangenheit. Sucht man nach Spuren jüdischen Lebens in Fulda, ist man oft auf Orte der Vergangenheit angewiesen, weil so vieles ausgelöscht wurde im sogenannten Tausendjährigen Reich.
Im Haus des Lebens
Vor kurzem habe ich gemeinsam mit Roman Melamed, dem Vorbeter der Jüdischen Gemeinde, den jüdischen Friedhof in der Edelzeller Straße besucht. Aus Sicherheitsgründen kann man nicht einfach hinein. Es versetzt mir jedes Mal einen Stich ins Herz, dass jüdische Einrichtungen so geschützt werden müssen, aber notwendig ist es, leider. Das hebräische "Beth Hachajim" bedeutet Haus des Lebens, jüdische Friedhöfe werden aber auch mit "Beth Olam" (= Haus der Ewigkeit) bezeichnet. Haus des Lebens? Aber ja, denke ich – denn Friedhöfe sind mindestens so wichtig für die überlebenden Angehörigen wie für die Toten und ihre Totenruhe.
Innerlich bin ich sehr bewegt, denn es ist der fünfte Todestag meiner Mutter. Ihr Grab auf dem Städtischen Zentralfriedhof ist quasi um die Ecke, und ich habe ihr schon eine Kerze hingestellt. Wie schön, dass die beiden Friedhöfe benachbart sind! In beiden Religionen dienen die Traditionen und Rituale rings um den Tod dazu, die Trauer der Angehörigen zu lindern und die Toten zu achten. Es gibt so vieles, das Judentum und Christentum intellektuell, religiös und spirituell verbindet – für mich ein immerwährender Quell des Wissens und der Freude.
Je nach der Situation der Gemeinde hat jeder Friedhof seine eigenen Regeln. In Fulda gibt es auf dem jüdischen Friedhof nur Einzelgräber, keine Familiengräber. Es kann sein, dass Ehepartner nebeneinander beerdigt sind, das ergibt sich aber eher aus den zur Verfügung stehenden freien Plätzen als aus einer Familienzusammenführung. In Frankfurt hingegen findet man häufiger Familiengräber – eine religiöse Bestimmung liegt weder dem einen noch dem anderen zugrunde. Auf manchen Friedhöfen sind Blumen auf den Gräbern erlaubt, auf anderen nicht. Die Fuldaer Gemeinde ist orthodox, deswegen wird nicht-traditioneller Grabschmuck hier nicht gern gesehen. Eines aber gilt für alle jüdischen Friedhöfe: Alle Gräber sind nach Osten ausgerichtet – nach Jerusalem. So können die Toten nach ihrer Auferstehung die Reise nach Jerusalem leichter antreten.
Auf dem Fuldaer Jüdischen Friedhof sind im rechten Teil die alten Gräber, im linken Teil die neuen Gräber. ‚Alte‘ Gräber heißt, hier liegen die Verstorbenen der ehemaligen jüdischen Gemeinde, ‚neu‘ meint, hier liegen die Verstorbenen der jetzigen jüdischen Gemeinde Fuldas. Geht man bis hinunter zum Ende des Friedhofs kurz vor den Bahngleisen, sieht man einige an die Mauer gelehnte alte Grabsteine. Fast alle sind beschädigt – es sind die geretteten Überreste der Grabsteine, die einst auf dem alten jüdischen Friedhof in der Rabanusstraße standen (heute Jerusalemplatz).
Kleine Steine gegen das Vergessen
Wie auch auf einem katholischen Friedhof gibt es eine Friedhofshalle (wir kennen sie als Aussegnungskapelle). Sie ist einfach und schlicht. An dem Pult wird die Trauerrede gehalten und das Kaddisch (= Lob Gottes und Totengedenken) gesprochen. Ringsum verläuft eine Holzbank für die Trauergemeinde. Vor der Friedhofshalle steht eine kleine Schale mit Kieseln – auf jüdischen Gräbern legt man traditionell Steine ab. Man kann sie mitbringen oder hier aus der Schale nehmen. Der abgelegte Stein bedeutet "ich vergesse Dich nicht".
Steine auf Gräber zu legen ist ein Brauch, der nicht nur im Judentum bekannt ist. Als ich zum ersten Mal auf den Knocknarea nahe Sligo in Irland gewandert bin, um der mythischen Kriegerkönigin Maeve an ihrem Grab dort oben meine Referenz zu erweisen, kam mir ein Schäfer entgegen. Er fragte mich, ob ich zu Queen Maeve wolle. Als ich das bejahte, griff er in seine Tasche und gab mir zwei kleine Steine, die ich oben ablegen sollte, um den Zorn der keltischen Königin zu besänftigen. Natürlich befolgte ich seinen Rat, wer will schon Kriegerköniginnen verärgern? Dann stand ich an diesem wahrhaft mystischen Ort, ehrte in Gedanken eine große Kriegerin und genoss die herrliche Aussicht.
Symbolik auf den Grabsteinen
Die "Mazeva", der Grabstein, wird in der Regel ein Jahr nach der Bestattung aufgestellt. Auf allen sieht man den Davidsstern, auf einigen zwei segnende Hände – Daumen, Ring- und kleiner Finger werden von Zeige- und Mittelfinger abgespreizt. Dieses Symbol weist darauf hin, dass hier jemand begraben ist, der aus der Priesterkaste der Kohen abstammt. Übrigens gibt es dieses Symbol auch als Emoji! Die segnenden Hände sieht man z.B. auf dem Grabstein von Rabbiner Dr. Michael Cahn.
Auf manchen Grabsteinen sieht man die sogenannte Levitenkanne – sie weist auf eine levitische Abstammung hin und steht für kultische Reinheit, denn die Leviten wuschen den Priestern vor dem Opfern die Hände. Eine Levitenkanne sieht man auf dem Grabstein von Wolf Feldheim. Manche Grabsteine schmückt auch eine Menora Es sind die Frauen, die in der Synagoge die Sabbat-Kerzen anzünden, der Leuchter verweist also darauf, dass hier eine Frau begraben liegt.
Davidstern und Namen, Todesdaten – dazu die Buchstaben Nun und Pe, sie sind eine Abkürzung für "Poh nitman /nitmena" (= hier liegt begraben). Unter dem Namen steht die mit fünf Buchstaben abgekürzte Formel "Tehi nafscho / nafscha zrura bizror hachajim" (= Möge seine / ihre Seele eingebunden sein in das Bündel des Lebens). Üblich ist es, die Vorderseite des Grabsteins auf Hebräisch zu beschriften, die Rückseite in der jeweiligen Landessprache.
Im Haus der Ewigkeit
Jüdische Friedhöfe sind für die Ewigkeit, sie werden nie aufgelassen. Den Toten gehört die Erde, in denen sie bestattet sind. Gläubige Juden glauben an die körperliche Auferstehung der Toten bei Ankunft des Messias. Eine Einäscherung würde diese Auferstehung verhindern. Im Judentum sind deshalb Erdbestattung vorgeschrieben. Wenn man diese Zusammenhänge verstanden hat, wird einem bewusst, dass die Zerstörung von jüdischen Friedhöfen und die Verbrennungsöfen in den Konzentrationslagern auch eine religiöse Barbarei waren. Erinnern Sie sich an die Buddha-Statuen von Bamyan? 2001 wurden sie durch fanatische Taliban zerstört, ein vergleichbarer Akt, der wie die Greueltaten der Nationalsozialisten die Auslöschung eines Volks und seiner Religion als Ziel hatten.
Man kann den jüdischen Friedhof an allen Tagen besuchen, außer am Sabbat und an den hohen jüdischen Feiertagen. Alle Juden sind gehalten, in den Tagen vor Rosch Haschana die Gräber ihrer Familienangehörigen zu besuchen, und natürlich am sogenannten Jahrtag (Todestag). Wie überall an religiösen Stätten tragen Männer auch auf dem Friedhof eine Kopfbedeckung, meist die Kippa. Im Judentum gibt es vielfach rituelle Handwaschungen. So vor den Mahlzeiten, und eben auch nach einem Besuch auf dem Friedhof. So wird die Unreinheit, die durch den Besuch bei den Toten entstanden ist, wieder aufgehoben. Für die Waschung verwendet man ein spezielles Gefäß, den "Natlan" – einen großen Becher mit zwei Henkeln. Man füllt ihn mit Wasser und übergießt damit jede Hand dreimal. Das Waschen ist also sowohl eine spirituelle als auch eine hygienische Reinigung.
"Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung", so steht es am Eingang der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Dieser Satz steht auch im Vorwort der 1980 erschienenen Dokumentation über den jüdischen Friedhof in Fulda. Aus dem, was geschehen ist, können wir Hoffnung schöpfen. Und wir können Verantwortung leben – für die Toten, für die Lebenden.
Die Steine im Rosengarten
Juden haben in Deutschland nicht erst unter den Nationalsozialisten Vertreibung und Pogrome erlebt. Davon erzählen die jüdischen Grabsteine aus dem 17. Jahrhundert, die im Rosengarten zu sehen sind. 1671 wurden alle Juden durch Fürstabt Bernhard Gustav Markgraf von Baden-Durlach aus dem Fürstbistum Fulda ausgewiesen, etwa 350 allein aus dem Stadtgebiet Fulda. Nur für fünf jüdische Familien gab es Ausnahmegenehmigungen. Alle ausgewiesenen Juden mussten ihre Anwesen zwangsverkaufen. Die Ausweisung war dem kostspieligen Machtpoker des Fürstabts geschuldet, der höhere Weihen anstrebte und ihm wohlgesonnene Städte, Adelige und Gilden brauchte. Die Strategie ging auf, er wurde kurz darauf zum Kardinal ernannt. Die Grabsteine des mittelalterlichen jüdischen Friedhofs wurden als Fußbodenplatten im Dom verbaut. So malerisch schön sie heute in der Domdechanei auch liegen, eigentlich gehören sie auf den jüdischen Friedhof. Gespräche dazu werden offenbar bereits geführt.
Als wir beim ersten Solidaritätstag mit Juden und Israel am 10. Juli 2024 hier Station machen, betet Pfarrer Michael Oswald einen Psalm, Wolfgang Hengstler, der Vorsitzende der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, rezitiert den orthodoxen Rabbi Nachman (1772-1810) aus Uman/Ukraine– und wir singen gemeinsam "Shalom Chaverim – Friede, Freunde!", eines der bekanntesten jüdischen Lieder. Würden wir uns alle als Freunde begreifen, würden wir unseren Einsatz für den Frieden auch als Einsatz für die Freiheit begreifen, wären wir in diesen weltpolitisch bedrückenden Zeiten einen großen Schritt weiter. (Jutta Hamberger)+++