«Keine Willkür» - Heil verteidigt Nullrunde - Foto: Michael Kappeler/dpa

BERLIN Unter den Betroffenen viele Kinder und Kranke

Nullrunde: Was beim Bürgergeld bevorsteht

05.09.24 - Das Bürgergeld stieg Anfang dieses Jahres kräftig - und nun soll es stagnieren. Ist die enttäuschende Nachricht für Millionen Menschen Ergebnis der jüngsten Debatten um die Grundsicherung?

Die mehr als fünf Millionen Empfängerinnen und Empfänger von Bürgergeld müssen im nächsten Jahr mit einer Nullrunde auskommen. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) gab eine entsprechende Rechtsverordnung in die formelle Abstimmung der Regierung. Die Nullrunde zum 1. Januar ergebe sich wegen der offiziellen Daten zur niedrigen Inflation und wegen des 2022 mit Zustimmung der Union beschlossenen Rechtsmechanismus, wie Heil in Berlin bekanntgab. «Mir ist wichtig, dass es keine Willkür gibt.» Das grundgesetzliche Existenzminimum sei damit abgesichert.

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Inflation niedrig - doch nicht mehr lange

Im August sind die Verbraucherpreise so langsam gestiegen wie seit mehr als drei Jahren nicht mehr. Die Inflationsrate lag bei 1,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat. Energie war billiger als vor einem Jahr - die Preise für Dienstleistungen stiegen überdurchschnittlich. Der Preisdruck geht nach Jahren mit hohen Inflationsraten zurück. Volkswirte befürchten aber zum Jahresende hin wieder steigende Teuerungsraten.

Schonung für Steuerzahler?

Am 1. Januar war das Bürgergeld - vor der Reform noch umgangssprachlich Hartz IV genannt - stark gestiegen, um zwölf Prozent. Alleinstehende erhalten seither 563 Euro im Monat. Erwachsene, die mit einem Partner oder einer Partnerin zusammenleben, kommen auf 506 Euro. Für Kinder und Jugendliche liegen die Sätze zwischen 357 und 471 Euro. Auch die Union trug das sozialpolitische Prestigeprojekt der Ampel mit, nachdem sie in einem Vermittlungsverfahren von Bundestag und Bundesrat Verschärfungen durchsetzen konnte.

Doch bald kam das Bürgergeld bei vielen in Verruf. Auch innerhalb der Ampel gab es Kritik. Als Ergebnis dieser Debatte reklamiert jetzt die FDP den Schritt zur Nullrunde für sich. «Wer arbeiten geht, muss stets deutlich mehr in der Tasche haben, als jemand, der vom Geld der Steuerzahler lebt», sagt FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai. «Dass der Arbeitsminister nun unserer Forderung nachkommt, die Bezüge zum kommenden Jahr nicht zu erhöhen, ist ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung.»

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Nullrunde seit Januar absehbar

Heil trat der Behauptung entgegen, dass die Nullrunde etwas mit den Debatten der vergangenen Monate zu tun hat. «Da wird nicht jedes Jahr gewürfelt, wie sich die Regelsätze erhöhen, sondern es gibt eine Verfassung und es gibt einen Anpassungsmechanismus, die der Deutsche Bundestag beschlossen hart - übrigens mit den Stimmen von CDU, CSU, FDP, SPD, Grünen.» Tatsächlich hatten Fachleute wie Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) schon im Januar festgestellt, dass es 2025 eine Nullrunde geben dürfte.

Grund ist der Anpassungsmechanismus. In zwei Schritten wird die Inflation erst der Vorjahre und dann des jüngsten erfassten Quartals in die neuen Regelsätze einberechnet. Der Arbeitsmarktforscher Holger Schäfer vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) sagte der dpa: «Dies beruht allein auf der Anwendung der geltenden Regeln für die Anpassung und ist kein Resultat aktueller politischer Entscheidungen.»

Perspektiven fürs Bürgergeld

Die CDU will im Fall eines Wahlsiegs die Bürgergeld-Regeln deutlich verschärfen. So peilt Generalsekretär Carsten Linnemann laut einem Interview vom Sommer größere Leistungskürzungen für Arbeits- und Terminverweigerer an als geltende 30 Prozent maximal. Linnemann: «Dann muss die Grundsicherung komplett gestrichen werden.» Auch die FDP will weitere Arbeitsanreize und konsequentere Sanktionen bei Arbeitsverweigerung, sagt Djir-Sarai.

Reform könnte Hin und Her vermeiden

IAB-Arbeitsmarktforscher Weber schlägt eine möglicherweise entscheidende Regeländerung vor. In nur einem Schritt könnte künftig die aktuelle Inflation in die Bürgergeldberechnung eingehen - so eine Anpassung proportional und zeitnah zur Inflationsentwicklung würde Betroffenen und Politikern das Hin und Her zwischen starker Erhöhung und mageren Jahren ersparen. In Anspielung auf die jüngsten Debatten über das Bürgergeld sagte Weber der dpa: «Proportional und zeitnah würde dazu führen, dass solche Diskussionen über den Regelsatz erst gar nicht mehr entstehen.»

Unter den Betroffenen viele Kinder und Kranke

Betroffen sind laut Heil 5,4 Millionen Menschen, wie im «Frühstart» von RTL und ntv sagte. Darunter seien viele Kinder oder Kranke, die nicht dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stünden. 20 Prozent bräuchten trotz Arbeit aufstockende Leistungen. 1,7 Millionen Menschen müssten in Arbeit gebracht werden, zwei Drittel davon seien Langzeitarbeitslose ohne abgeschlossene Berufsausbildung. Auch viele Ukrainerinnen und Ukrainer müssten trotz Erfolgen noch in Arbeit gebracht werden.

Heil bekräftigte, dass die Ampel bei den Sanktionen nachschärfen wolle. So werde künftig scharf sanktioniert, wer trotz Stütze schwarz arbeite. «Es ist ein lernendes System.» Die Weiterentwicklung dürften nicht ideologisch diskutiert werden. Wie es in der Regierung hieß, könnten die geplanten Bürgergeld-Änderungen im Oktober ins Kabinett kommen, auch mehr Arbeitsanreize für Geflüchtete.

74 Euro fehlen für Strom

Der Deutsche Gewerkschaftsbund kritisierte die geplante Nullrunde. Solange Mieten häufig kaum bezahlbar seien und der Mindestlohn nur um wenige Cent erhöht werde, brauche es neben mehr Tarifbindung, einem höheren Mindestlohn und einer Mietenbegrenzung auch ein Bürgergeld, das wirklich das Existenzminimum sichere, sagte DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel bei RTL/ntv. Arbeitsmarktforscher Schäfer vom arbeitgebernahen IW wies darauf hin, dass das Bürgergeld nach dem geltenden Anpassungsmechanismus möglicherweise sogar sinken würde. «Dies ist derzeit aber gesetzlich ausgeschlossen.» Nach Berechnungen des Vergleichsportals Verivox bleibt mit der Nullrunde etwa der Anteil für Strom zu gering. Der Fehlbetrag für einen Alleinlebenden: 74 Euro pro Jahr. (Von Stefan Heinemeyer und Basil Wegener, dpa) +++


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