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![Anja Listmann erhält den Obermayer Award 2025. Von links: Cornelia Seibeld (Präsidentin des Berliner Abgeordnetenhauses), Kai Wegner (Regierender Bürgermeister Berlin), Anja Listmann, Joel Obermayer (Sohn des Award-Gründers)](https://oshessen-news.b-cdn.net/images/25/01/xl/11771470-00-header-img-0012.jpeg?crop=1280,615,0,113&width=728)
Obermayer Award an Anja Listmann verliehen
29.01.25 - Seit 25 Jahren wird der Obermayer Award verliehen – an Menschen, die in ihren Heimatstädten ehrenamtlich einen herausragenden Beitrag zur Wahrung des Gedenkens an die jüdische Vergangenheit leisten. Anja Listmann, Fuldas Beauftragte für Jüdisches Leben, wurde in diesem Jahr ausgezeichnet – und ist damit nach Dr. Michael Imhof (2019) bereits die zweite Preisträgerin aus Fulda Stadt / Land.
Eine Graswurzelbewegung
Am Holocaust-Gedenktag quellen Zeitungen und Fernsehen von Berichten über Gedenkveranstaltungen nur so über. Nie wieder, Nie wieder ist jetzt, We Remember – nichts davon ist falsch, und doch wirkt manches formelhaft erstarrt. Begegnet man den Obermayer Preisträgern, hat man noch stärker den Wunsch, gegen diese Sätze anlaufen zu wollen. Denn im Kontakt erschließt sich einem unmittelbar, woher die Kraft der Erinnerungsarbeit kommt und wer sie trägt. Ganz normale Menschen, die aktiv werden, die sich gegen die oft vielfältige Trägheit von Behörden oder die Unlust von Amtsträgern durchsetzen und ihren Weg gehen. Joel Obermayer, Sohn des Gründers, brachte es auf den Punkt: "Erinnerungsarbeit ist eine Graswurzelbewegung. Man tut heute oft so, als sei die Erinnerungskultur in Deutschland eine ganz natürliche Entwicklung gewesen, aber das war es nicht. Es begann in kleinen Orten, und es begeisterte meinen Vater, überall in Deutschland Menschen zu finden, die sich für die Geschichte ihrer jüdischen Mitbürger interessierten. Ich nenne sie ‚Rememberance Workers‘ (= Erinnerungsarbeiter). Es hängt immer alles vom Engagement Einzelner ab."Alle Preisträger sind sich darin einig: Wenn wir die Vergangenheit nicht lebendig vermitteln an die junge Generation, werden wir sie vergessen. Aus der Geschichte lernen kann nur, wer von ihr berührt wird, wer Empathie entwickelt und durch die Begegnung mit dem Gestern neue Perspektiven für das Heute einnehmen kann. Das ist auch der Grund, warum Joel Obermayer ‚Widen the Circle‘ gründete. In den USA gibt es keine vergleichbare Erinnerungsarbeit, wie sie hier in Sachen Holocaust geleistet wird, obwohl es ein durchaus vergleichbares Thema gibt – den Rassismus gegen die ‚African Americans‘. Mit ‚Widen the Circle‘ begegnen sich amerikanische und deutsche Erinnerungsarbeiter und tauschen Erfahrungen aus. Aus diesem Austausch entsteht Zusammenhalt, Resilienz und Mut: Wir sind viele, und nein, die Rassisten und Antisemiten sind eben nicht die Mehrheit. Es tut gut, zwei Tage lang mit Menschen zusammenzukommen, von denen kein einziger in die Kategorien Rassist, Antisemit oder Faschist fällt.
Miteinander und voneinander lernen
Und so kommt es zu einem Gespräch zwischen Stephan "Conny" Conrad aus Sachsen, der 2022 für den Verein Treibhaus ausgezeichnet wurde. Treibhaus ist ein Safe Space in seiner Heimatstadt Döbeln, es geht aber auch um die Auseinandersetzung mit der lokalen Geschichte in der NS-Zeit. Conny erzählt, dass er als Teenager Gewalt und Bedrohung erfahren habe, denn alle Jugendclubs damals seien von Neo-Nazis dominiert worden. Auch er wurde einmal zusammengeschlagen – und fand Zuflucht im Treibhaus. Heute ist er dort als Sozialarbeiter tätig und sagt, der Verein habe sein Leben verändert. Er ist Kandidat der örtlichen SPD. Bei der Landratswahl am 26. Januar 2025 gingen in Döbeln etwas mehr als 9.000 Einwohner zur Wahl (knapp die Hälfte). 3.398 Stimmen entfielen auf den AfD-Kandidaten, 480 auf die Freien Sachsen (Rechtsextremisten), 1.390 auf SPD und Linke. Als Conrad gefragt wird, ob er angesichts dieser Verhältnisse Angst habe und Döbeln lieber verlassen würde, kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen: "Nö. Ich bleibe. Hier ist meine Heimat, die überlasse ich doch nicht denen."Sein Gesprächspartner ist Dr. Karlos Hill, Professor des Clara Luper Department of African American Studies an der Universität von Oklahoma. Er gründete dort ein Institut für das Tulsa Race Massacre, um Lehrern und Schülern die Geschichte dieses Massakers zu vermitteln. 1921 wurden dabei 300 schwarze Amerikaner von einem weißen Mob gelyncht. Ihr auch "Black Wall Street" genanntes Wohnviertel Greenwood wurde niedergebrannt, anschließend stahlen Weiße, was nicht niet- und nagelfest war. Verhaftet aber wurden nur Schwarze.
Erst 1997 richtete das Staatsparlament von Oklahoma einen Untersuchungsausschuss ein, in dem das Massaker endlich als Unrecht anerkannt wurde.
In den Jahrzehnten dazwischen hatte die weiße Mehrheit die Ereignisse als ‚Rassenunruhen‘ geframt – ein klassisches Blame Game, das die Schuld den Opfern zuschob. Bis zur Erkenntnis, dass das Massaker auf stereotypen Vorurteilen gegenüber Schwarzen beruhte, dass den Weißen deren relative Prosperität und das damit einhergehende Selbstvertrauen ein Dorn im Auge war, war es noch ein weiter Weg. "Healing History", nennt Karlos das – bewusst doppeldeutig: Es geht um das Richtigstellen historischer Ereignisse in ihrem Kontext genauso wie darum, Nachfahren zu ermöglichen, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Auch Karlos wurde gefragt, ob er jetzt – in Woche zwei nach Donald Trumps Wiedereinzug ins Weiße Haus – nicht in Sorge sei. Seine Antwort: "Ich schulde es den Leuten in Oklahoma, nicht zu verzweifeln."
Ein Preis gegen die Einsamkeit
Alle Preisträger wurden in einem berührenden Filmporträt vorgestellt, dann gab’s die Urkunde – verliehen vom Regierenden Bürgermeister und Cornelia Seibeld, der Präsidentin des Berliner Abgeordnetenhauses. Kai Wegner würdigte die Preisträger als Menschen, die Vorbilder für die Gesellschaft seien.Als Anja Listmann geehrt wurde, sprach sie auch darüber, mit welchen Schwierigkeiten sie bei ihrer Erinnerungsarbeit von Anfang an zu kämpfen hatte. Sie war damals 24 und schrieb ihre Magisterarbeit über "Jüdisches Leben in Bad Salzschlirf". In ihrer Heimatgemeinde empfahl man ihrem Vater, die Tochter solle sich lieber mit historischen Trachten statt mit Juden beschäftigen. "Noch heute ist die Situation schwierig", so Anja Listmann. Ihr immenses Wissen über Fuldas jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger bringt Anja Listmann heute in ihre Arbeit als Beauftragte für Jüdisches Leben ein. Sie hat Stammbäume angelegt, Familiengeschichten über sämtliche Kontinente verfolgt und nachgehalten, Nachfahren wieder in Kontakt miteinander gebracht, Begegnungen ermöglicht. Und: Sie hat Vertrauen aufgebaut, die kostbarste Währung von allen.
Unterstützer aus der ganzen Welt waren mit Anja nach Berlin gekommen – darunter viele Nachfahren ehemaliger jüdischer Mitbürger Fuldas, darunter: Ofra und Shimon Givon. Ethan Bensinger mit seiner Frau Elizabeth. Michael Braunold. Stuart Weinstein. Rita und Norm Broner. Lorie Wallach. Ellie Roden. Elizabeth und Michael Levy. Gekommen waren auch einige Schüler/innen aus Anja Listmanns Projekt "Jüdisches Leben in Fulda", Dr. Michael Imhof mit seiner Frau, Roman Melamed, der Vorbeter der Jüdischen Gemeinde, Jutta Hamberger, die Vorsitzende der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Fulda und natürlich Ehemann Klaus und Sohn Samuel. Dass auch Daniel Neumann, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Hessen, anwesend war, hatte gleich drei gute Gründe: Mit Fulda fühlt er sich ohnehin sehr verbunden, einige seiner Verwandten waren anwesend, und gleich zwei Obermayer Awards gingen nach Hessen.
Auch das ist eine Wirkung dieses Preises: "Ich habe jetzt eine Rüstung um mich, ich bin in eine Familie aufgenommen", so Anja Listmann. Man fühlt sich weniger allein, man spürt die Kraft, die von denen ausgeht, die Ähnliches tun wie man selbst. Der Obermayer Award sei ein ansteckender Preis, hatte Moderatorin Shelly Kupferberg gesagt, denn die Preisträger würden immer wieder aufs Neue Menschen anstiften, sich zu engagieren. Aufs Brandenburger Tor wurde am Holocaust-Gedenktag "We remember" projiziert. Ja, klar. Obermayer Preisträger aber gehen weiter und sagen: "We do". Lassen wir uns von ihnen anstiften.
Die Verleihung der Obermayer Awards des Jahres 2025 können Sie sich hier anschauen: https://www.youtube.com/watch?v=TgLudLHz8ic – der Film über Anja Listmann beginnt bei Minute 56:34. Informationen über alle Preisträger finden Sie hier: https://widenthecircle.org/de/obermayer-awards/winners-2025-announced. (Jutta Hamberger) +++