


SPD-Urgestein Michael Roth verabschiedet sich mit Rede aus dem Bundestag
01.02.25 - Ein allseits anerkannter Sozialdemokrat aus unserer Region, dem Landkreis Hersfeld-Rotenburg, hat sich am späten Donnerstagabend vom Deutschen Bundestag verabschiedet. Michael Roth hatte im letzten Frühjahr völlig überraschend mitgeteilt, dass er nach der Bundestagswahl 2025 aus der Politik aussteigen will. Er habe sich von der SPD entfremdet, lautete seine Begründung.
Für ihn sei immer klar gewesen, dass er nicht als Abgeordneter in Rente gehen wolle. Der 54-Jährige hatte bereits vor drei Jahren mehrere Monate wegen mentaler Erschöpfung pausiert und auf die Härte des politischen Betriebs verwiesen.
Der SPD-Außenexperte ist seit 1998 Mitglied des Bundestags. Von 2013 bis 2021 war er Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, von 2014 bis 2021 Beauftragter der Bundesregierung für die deutsch-französische Zusammenarbeit. Seit 2021 ist er Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag.
Roth hatte auf der Plattform X erklärt, er sei unendlich dankbar, dass er siebenmal von den Wählerinnen und Wählern in seinem Wahlkreis Werra-Meißner-Hersfeld-Rotenburg direkt in den Bundestag gewählt worden sei. Gefragt, was er in der Zeit nach seinem Ausscheiden nach der Bundestagswahl machen will, sagte Roth: "Was kommt, das weiß ich noch nicht."
Wir veröffentlichen seine Abschiedsrede, die er am Donnerstag eine Stunde vor Mitternacht vor dem Plenum des Bundestags hielt, aus diesem Anlass hier im Wortlaut:
"Guten Abend, liebe Frau Präsidentin,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
dass ich mich als Frühaufsteher und vor allem auch als Frühzubettgeher um 23:09 Uhr von Ihnen verabschiede, das ist vermutlich eine boshafte Ironie des Schicksals, aber ich werde mein Bestes zu geben versuchen. Meine persönliche Geschichte des Aufstiegs durch Bildung ist bis heute für viel zu viele junge Menschen ein leeres Versprechen. Ohne meine Oma, ohne Lehrerinnen und Lehrer, die an mich glaubten, und nicht zuletzt ohne meine SPD hätte ich nicht das geschafft, was wenige schaffen. Aus dem schüchternen Spross einer Bergarbeiterfamilie wurde ein Bundestagsabgeordneter und acht Jahre Staatsminister. Aber ich bin eine Ausnahme. Arbeiterkinder haben es nach wie vor schwer. Tun wir endlich mehr, um wirklich allen Talenten unabhängig von ihrer Herkunft oder der Dicke
des Geldbeutels ihrer Eltern eine faire Chance zu eröffnen: in Wirtschaft und Wissenschaft, Diplomatie und eben auch in der Politik.
Ich wuchs im nordhessischen Heringen, unweit der Grenze zur ehemaligen DDR auf. Bis zu meinem Abitur ging es für mich hinter dem Horizont eben nicht weiter. Mauer, Zaun und Selbstschussanlagen hinderten mich daran. Der 9. November 1989 änderte fast alles. Der Fall der Mauer machte mich zum überzeugten Europäer. Europa war für mich die Erfüllung eines Traums: ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung, ohne Abschottung und Zäune, ohne Stacheldraht und ohne Mauer. Und wir wissen, wie es jetzt um Europa aussieht.
Den Zusammenbruch der sowjetkommunistischen Diktatur verband ich mit einer großen Hoffnung: stabiler Frieden, die Überwindung von Gewalt, Diplomatie statt Krieg. Frieden schaffen ohne Waffen. Menschenrechte, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit setzen sich durch - in ganz Europa und weltweit. Doch meine Hoffnung trog. Ich habe die Rechnung ohne die neuen Diktatoren und autoritären Herrscher dieser Welt gemacht. Sie sind wieder bereit, Konflikte mit militärischer Gewalt zu lösen. Sie töten statt zu verhandeln, unterdrücken statt zu kooperieren: ob Iran, Nordkorea, China oder Russland. Vom russischen Imperialismus geht die größte Gefahr aus. Frieden und Sicherheit in Europa wird es nur geben, wenn wir den russischen Terrorstaat stoppen – in der um ihre Freiheit kämpfenden Ukraine, in Georgien, Moldau und in Armenien.
Wir alle ringen in der Frage von Krieg und Frieden um den richtigen Weg. Ich persönlich hätte mir weniger Schärfe in der Auseinandersetzung gewünscht. Denn niemand von uns hat doch eine Blaupause in der Schublade. Wir alle machen uns schuldig - auf die eine oder andere Weise. Diejenigen, die - so wie ich - der Ukraine alles geben wollen, was sie für ihren Freiheitskampf braucht. Aber eben auch die, die einer stärkeren militärischen Unterstützung skeptisch oder ablehnend gegenüberstehen.
Wir müssen viel mehr tun für den Frieden und die Sicherheit - und zwar durch Abschreckung und Wehrhaftigkeit, gemeinsam mit EU und NATO. Und das verlangt Zumutungen, Zumutungen für uns alle. Für meine Sozialdemokratie bedeutet das, dauerhaft deutlich mehr Geld in Verteidigung zu investieren. Für Konservative und Liberale heißt es, diese Investitionen auch über mehr Schulden zu finanzieren, nicht über Kürzungen im Sozialen. Doch der Schutz unserer liberalen und sozialen Demokratie muss uns allen etwas wert sein.
Und nun noch ein paar Worte an meine eigenen geschätzten Kolleginnen und Kollegen in der SPD-Fraktion: "Die Internationale erkämpft das Menschenrecht!" Das hat mich immer geleitet. Die Freiheitskämpferinnen und Freiheitskämpfer in Georgien und der Ukraine, im Iran und Taiwan, in Venezuela und dem Westbalkan müssen spüren und wissen: wir stehen an ihrer Seite. Wir kuscheln nicht mit den Mächtigen. Wir kämpfen für unsere Werte und Prinzipien. Autoritarismus führt zu Unterdrückung und Krieg. Nur die liberale und soziale Demokratie schafft gerechten Frieden und Freiheit.
Gestern gedachten wir im Bundestag der Opfer des Holocaust. Der ukrainische Holocaustüberlebende Roman Schwarzman rüttelte uns mit seiner Rede wach: er erinnerte nicht nur an die Opfer, sondern nahm uns in die Pflicht. Tut jetzt etwas, um die drohende Auslöschung der Ukraine abzuwenden. Nicht mit Worten, sondern mit Taten.
Ich bin erschüttert, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder in Angst leben müssen - auf deutschen Straßen, in deutschen Universitäten, in deutschen Schulen und am Arbeitsplatz. Mein Land ist mir fremd geworden. #Weremember wird zu einer hohlen Phrase, wenn wir uns dem Antisemitismus nicht kompromisslos entgegenstellen: sei es der Hass alter und neuer Nazis, der Judenhass in Teilen unserer Gesellschaft mit migrantischen Wurzeln oder die Dämonisierung Israels in meinen eigenen linken Kreisen.
Wenn man 38 Jahre politisch aktiv ist und fast 27 Jahre dem Bundestag angehört, macht man Fehler, enttäuscht und verletzt Menschen. Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich aus Angst, Trägheit, Unsicherheit oder Arroganz weggeschaut habe oder nicht laut genug war: bei der Unterstützung meiner Freundinnen und Freunden in der Ukraine und Israel, oder wenn Menschen wegen ihrer Religion oder ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft, ihrer Behinderung, ihrer sexuellen Identität entwürdigt, gar bedroht wurden.
Eine Bitte zum Schluss: Machen Sie den Bundestag zu einem Ort leidenschaftlicher Debatten, in denen sich unsere Bürgerinnen und Bürger wiederfinden. Werden Sie Mutmacher für die Verängstigten und Hoffnungslosen. Kämpfen Sie für ein Land, in dem wir ohne Angst verschieden sein können.
Vielen Dank!" (pm/ci)+++
Michael Roth verlässt den Bundestag - weitere Artikel

