Vollbesetztes Haus beim Konzert der Winfridia in der Orangerie - Alle Fotos: Martin Engel

FULDA Winfridia Konzert in Orangerie

Eines Tages werden wir wieder Menschen sein

30.03.25 - Vermutlich gibt es nur wenige Tagebücher, die solchen Weltruhm genießen wie das des jüdischen Schulmädchens Anne Frank. Am 12. Juni 1942 – ihrem 13. Geburtstag – begann sie mit den Eintragungen. "Es ist für jemanden wie mich ein eigenartiges Gefühl, Tagebuch zu schreiben. Nicht nur, dass ich noch nie geschrieben habe, sondern ich denke auch, dass sich später keiner für die Herzensergüsse eines 13-jährigen Schulmädchens interessieren wird.” Doch, und wie!

Erst 17 Jahre ist die junge Fuldaer Cellistin Eileen Tolsdorf alt – wunderbar spielte ...

Für diese Leistung gab es natürlich Blumen als Dankeschön

Dirigent Carsten Rupp dirigierte expressiv und hatte alles fest im Griff ...

Die Chorkantate Annelies

"Annelies" nach Anne Franks Tagebuch stammt von James Whitbourn (1963-2024), das Libretto von Melanie Challenger. 2005 wurde die Chorkantate in London uraufgeführt, dieDeutschlandpremiere gab es 2012 in Frankfurt. Der Städtische Konzertchor Winfridia sang "Annelies" erstmals 2013 in Fulda und erinnerte mit dem Konzert daran, dass 75 Jahre zuvor, am 28. Oktober 1938, erstmals Fuldaer Jüdinnen und Juden deportiert worden waren.

Auch die diesjährige Aufführung von "Annelies" durch den Städtischen Konzertchor Winfridia hat eine politische Grundierung. Denn 2025 begehen wir den 80. Jahrestag des Kriegsendes. Eigentlich wissen wir alle nur zu gut, was Antisemitismus und Faschismus anrichten. Und doch erleben wir, wie beides weltweit wieder auf dem Vormarsch ist – von links wie von rechts. Diese abgrundtief widerliche und inhumane Gesinnung entlarvt Anne Frank in ihrem Tagebuch. In ihrem Erzählen über sich und die Menschen im Hinterhaus kommen wir ihr nahe – ihren Gefühlen und Gedanken, der Hoffnung und der Verzweiflung, dem Glück und der Wut. Wir sehen ‚die Menschen‘, nicht ‚die Juden‘. Wir grenzen nicht mehr aus, wir fühlen uns verbunden. Die unfassbare Zahl von sechs Millionen ermordeten Juden wird hier emotional verdichtet, so dass wir dem Geschehen nicht länger ausweichen können. Das war die politische und zugleich menschliche Botschaft, die der Konzertchor an diesem Abend in die Welt sandte.

Sopranistin Meike Buchbinder mit ihrem sowohl lyrischen wie expressiven Sopran meisterte ...

Auch Bella Gusman aus dem Vorstand der Jüdischen Gemeinde war ins Konzert gekommen ...

Der Städtische Konzertchor Winfridia war bei "Annelies" in Hochform

"Annelies" nach Anne Franks Tagebuch stammt von James Whitbourn

Zwei Jahre im Hinterhaus

Die Franks – eine Frankfurter Familie – waren vor den Nationalsozialisten nach Amsterdam geflohen. Als die Niederlande von der Wehrmacht überrannt wurden, entschloss die Familie sich, abzutauchen – im berühmten Hinterhaus in der Prinsengracht. Wie ist das, mit acht Menschen, die unter anderen Bedingungen wohl kaum zusammengelebt hätten, auf engstem Raum und in ständiger Angst vor der Entdeckung zu leben? Und dabei doch einerseits selbst heranzuwachsen und andererseits aus dem Dachfenster das Leben draußen vorüberziehen zu sehen?

Die Chorkantate erzählt das Tagebuch nicht linear, sondern springt zwischen den Jahren und den Perspektiven. Die Musik ist ungeheuer vielschichtig. Oft ist sie lautmalerisch: Wir hören die Glocken der Westertoruhr und die Bomben der deutschen Flieger genauso wie die donnernden Schläge an die Tür im Hinterhaus. Wir hören weinende Kinder und prügelnde SS-Schergen, wir hören die Fahrzeuge, wir hören die Freude genauso wie die verzweifelte Angst Annes.

Whitbourn integriert ein deutsches Volkslied aus dem 19. Jahrhundert ("Der Winter ist vergangen"), dichtetet "It’s a long way to Tipperarary" um auf die Badeszene in "Life in Hiding" (Nr. 5), verwendet Psalmen in "The Capture and the Concentration Camp" (Nr. 13)und komponiert im Stil eines Chorals in "Ich danke Dir für all das Gute und Liebe und Schöne" (Nr. 12). Er baut eine Kyrie-Anrufung ein (Nr. 8) – der Ruf um Erbarmen ist ebenso jüdisch wie christlich und tatsächlich archaisch menschlich. Er paraphrasiert Psalm 22 mitJesu Ruf am Kreuz "Anne, warum hast Du mich verlassen" (Nr. 9) und lässt die Musik fallweise an Bach’sche Kantaten erinnern (Nr. 11). Er baut sog. Chants (Sprechgesänge) ein (Nr. 13). Das Wechselspiel zwischen Chor und Solistin ist überaus kunstvoll. Text und Musik verschmelzen ausdrucksstark und sensibel zugleich, ohne je sentimental zu werden.

Chiaroscuro in Gleichzeitigkeit

"Annelies" ist in jeder Beziehung anspruchsvoll – musikalisch, sprachlich und emotional. Wie die Winfridia das mit ihrem Dirigenten Carsten Rupp und der Vogtland Philharmonie bewältigte, war äußerst eindrucksvoll. Alle waren diesem Werk in jeder Note gewachsen. Erst recht gilt das für Sopranistin Meike Buchbinder, die wir mit der Winfridia im vergangenen Herbst schon in Rossinis "Petite Messe solennelle" erleben durften. Was für eine klare, ausdrucksvolle und sensible Stimme diese junge Sängerin hat! Es ist ein Genuss, ihr zuzuhören.

Die Musik wird von einem Chiaroscuro beherrscht, wie wir es sonst aus der Malerei v.a. des Barock kennen. Hier wechseln sich Licht und Schatten aber nicht einfach durch helle und traurige Momente ab, beides ist stets gleichzeitig da. Denn außer Annes Leben im Hinterhaus gibt es das ihrer Leidensgenossen in den Konzentrationslagern und Ghettos. Kein Glück ohne Leid, keine Traurigkeit ohne Hoffnung. Das Werk schließt mit hoffnungsfrohen Worten:"Solange du ohne Furcht in den Himmel schauen kannst, weißt du, dass du reinen Herzens bist", und verhaucht dann. Danach war es mucksmäuschenstill in der Orangerie, bevor schließlich tosender Beifall losbrach.

Ein Konzert als Statement

Umrahmt wurde "Annelies" von zwei bedeutenden Werken. Max Bruch komponierte 1880 sein op. 47 für Cello und Orchester auf das "Kol Nidrei", das Auftaktgebet am Jom Kippur. Bruch macht daraus ein hochdramatisches und wirkungsvolles Konzertstück, einen emotionalen Klage- und Bekenntnisgesang, in dem die junge Fuldaer Cellistin Eileen Tolsdorf glänzte. Tolsdorf ist eine Schülerin Maja Zirkunows und Johannes Eisenmeiers und hat ihr herausragendes Talent bereits in zahlreichen Wettbewerben gezeigt. Erstmals ermöglichte die Winfridia einer jugendlichen Schülerin der Städtischen Musikschule das solistische Debüt mit einem professionellen Symphonieorchester – und Eileen Tolsdorfbedankte sich mit einer großartigen Leistung.

Den Abschluss des Konzerts schließlich bildete Felix Mendelssohn-Bartholdys herzzerreißend schöne Friedensbitte "Verleih uns Frieden" (1831). So schloss sich der Kreis – zwischen den Kulturen und Religionen, zwischen klassischer und moderner Musik. Musik baut Brücken – auch zwischen Menschen, auch dort und dann, wenn Menschen schier unerträgliches Leid zu erdulden hatten oder sich angetan haben. Ganz im Sinne Anne Franks: "Und doch, wenn ich zum Himmel blicke, fühle ich, dass sich alles zum Besseren wenden wird."

Das begeisterte Publikum in der vollbesetzten Orangerie bedankte sich mit Standing Ovationsbei Chor, Orchester, Dirigent Carsten Rupp und den Solisten – diesen eindrücklichen Abendwerden wir alle so schnell nicht vergessen. (Jutta Hamberger) +++

– Team Osthessen News – Martin Engel und Jutta Hamberger

Unter den Besuchern auch Anna Litvin vom Vorstand der Jüdischen Gemeinde Fulda, neben ihr Abram ...

Unter den Zuhörern auch Generalvikar a.D. Prof. Dr. Gerhard Stanke und Prof. Dr. Cornelius Roth ...

Unter den Besuchern auch Anna Litvin vom Vorstand der Jüdischen Gemeinde Fulda, neben ihr Abram ...

Stadtverordneter Ronny Lamely


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