Christoph Hein ist Schriftsteller, Essayist und Übersetzer. - Fotos: Rene Kunze

FULDA Literatur im Stadtschloss mit Christoph Hein

Geschichtsschreibung ist Sache von Romanciers

02.04.25 - In der zweiten Lesung der Reihe "Literatur im Stadtschloss" kam mit Christoph Hein am Montag ein literarisches Urgestein nach Fulda – vielfach ausgezeichnet und mit einem vielschichtigen Werk. In Fulda war er schon mehrmals, an diesem Abend allerdings zu seiner ersten Lesung, wie Oberbürgermeister Dr. Heiko Wingenfeld in seiner Begrüßung erzählte.

Der poetische Chronist der DDR

Der Oberbürgermeister freute sich darüber, dass Fuldas Lesebegeisterte wieder sehr zahlreich in den Fürstensaal gekommen waren und dankte den Sponsoren der Reihe: "In Deutschland ist die Richtung bei Autorenlesungen inzwischen anders – es wird teurer und teurer. In Fulda gelingt es uns dank unserer Sponsoren (Sparkassen-Familie und Parzellers), die Lesereihe weiter kostenfrei anzubieten und danach sogar noch Rheingauer Wein auszuschenken", so der OB.

Christoph Hein las am Montagabend aus seinem neuen Buch "Das Narrenschiff" vor. ...

Heins neustes Werk "Das Narrenschiff" erschien erst am 28.3.25

Oberbürgermeister Dr. Heiko Wingenfeld begrüßte die Gäste.

Dann stellte er Heins Vita als eine typisch deutsche, in weiten Teilen aber eben auch typisch ostdeutsche Geschichte vor und überließ dem Autor die Bühne mit einem Bonmot Marcel Reich-Ranickis, der Hein, dem poetischen Chronisten der DDR, einst "Kraft, Mut und Rückgrat" bescheinigt hatte. Ich vermute, dass dieses Lob auch als Abgrenzung gegenüber Literaten vom Schlage einer Christa Wolf zu verstehen ist.

Margarete Hartmann, Stadtverordnetenvorsteherin (CDU) und der ehemalige Oberbürgermeister ...

Der ehemalige Oberbürgermeister Gerhard Möller, Edmund Sorg und seine Ehefrau ...

Ein dreifaches "Ach" zu Beginn

Ach – zur Freude aller war die Mikrofonanlage im Fürstensaal heute endlich so eingestellt, dass man den Autor gut verstehen konnte. Ehrlich gesagt denke ich immer noch, ein Headset würde so ziemlich alle Probleme lösen, eben auch die von Autoren mit eher leiser, verwaschener Stimme, wie wir sie ja schon oft im Fürstensaal erlebt haben. Das nun war Heins Problem nicht, der mit kraftvoller Stimme die vermutlich kürzeste Lesung der Reihe absolvierte und nach kaum 45 Minuten fertig war.

Ach – "Das Narrenschiff" war erst wenige Tage vor der Lesung erschienen, so musste man davon ausgehen, dass viele Besucher/innen es noch gar nicht gelesen hatten. Hein las plakative Stellen über Ereignisse der DDR-Geschichte, stellte aber zwischen den Stücken oder Personen keine Zusammenhänge her. So traten die Personen hinter die Geschehnisse zurück, obwohl es doch Heins auch an diesem Abend postulierter Anspruch war, die 45 Jahre DDR-Geschichte über die Personengeschichten in Griff zu bekommen. Wer das Buch nicht kannte, der war fallweise vermutlich etwas 'lost'.

Ach – das wirklich Wesentliche und Wichtige sagte Christoph Hein nach seiner Lesung. Da nämlich erklärte er uns mit Leidenschaft und Feuer, dass Geschichtsschreibung und Zeitbewältigung keineswegs Sache von Historikern seien – egal, wie oft diese das auch behaupteten – sondern Aufgabe von Romanciers: "Seit Homers 'Ilias' sind Romanciers für die Geschichtsschreibung zuständig, Historiker sind nur für die Hinterlassenschaften der Geschichte da. Geschichtsschreibung ist die Aufgabe, die wir Romanciers zu leisten haben." Der Beifall nach diesen Sätzen fiel lauter und begeisterter aus als nach der eigentlichen Lesung. Und in der Tat – über diese Rolle und Selbstdefinition als Chronist der eigenen Zeit hätten wohl viele gern mehr gehört.

Von Anfang an zum Scheitern verurteilt

Heins "Narrenschiff" fällt in die Kategorie Gesellschaftsroman. Seine Protagonisten erleben den Aufbau der DDR, richten sich in diesem Land ein und erleben sein Ende mit dem Mauerfall. Den Titel "Narrenschiff" hat Hein sich quasi geliehen, den gab es nämlich schon einmal, 1494 erschien Sebastian Brants gleichnamige Moralsatire mit durchaus vergleichbarem Inhalt. Auch bei Brant geht es um ein scheiterndes Staatsschiff.

Hein erzählt das auf 750 Seiten in klassisch bildungsbürgerlicher Manier, ausführlich und bisweilen arg altväterlich. Er übersetzt die prägenden Geschehnisse der DDR in die Geschichte seiner Protagonisten. Diese stehen für typische DDR-Biographien und typische DDR-Anpassungen an die Verhältnisse, wie sie nun einmal waren. Anfangs sind fast alle Wohlmeinende, voller Optimismus und Idealismus, was den neuen deutschen Staat angeht. Das 'bessere Deutschland' wirkt als starke Idee. Leider nur kurzfristig, denn alles verdünnisiert sich schnell zugunsten von Opportunismus, Karrierismus und Speichelleckerei. Die Transformation in einen aggressiven Unterdrückerstaat ist spätestens mit dem 17. Juni 1953 erfolgt und allen ist klar: Das wird kein demokratischer Staat, schon gar kein besserer, sondern ein autoritärer.

Ein System, in dem Widerspruch und kritisches Denken gefährlich sind, ein System, in dem Befehle dogmatisch befolgt werden, ein System, in dem Hierarchie und Willkür das Geschehen bestimmen, ein System, in dem Lüge zur Wahrheit wird – ein solches System wird früher oder später nur noch von einem Gesetz beherrscht: "Stell es schlau an, damit du auf deine Kosten kommst". In einem solchen System überlebt man nur mit adaptiver Anpassung, vulgo Opportunismus – oder man flieht.

Ein Kapitel allerdings hat Hein in seiner sehr sachlichen DDR-Chronik nicht geschrieben. Es wäre eins gewesen, dass vermutlich nicht nur ich gern von ihm erzählt bekommen hätte. Wie kann es sein, dass heute so viele Menschen den SED-Staat und sein System verklären, russlandgläubig sind, 'starken Männern' anhängen oder der schaumschlägernden AfD verfallen? Stockholm-Syndrom XXL? Wir erleben tagtäglich, welche Schäden die DDR-Sozialisierung auch nach 35 Jahren noch anrichtet.

Zumindest ansatzweise hätte das in meinen Augen in diese DDR-Geschichte mit hineingehört. Denn der Untergang eines Reichs bedeutet noch lange nicht den Untergang seiner Wertvorstellungen. Romancier Hein hätte dazu mit Sicherheit viel beizutragen. (Jutta Hamberger) +++


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