Dr. Jörg Simon über die neuen Entwicklungen im Kampf gegen Adipositas. - Fotos: Hannes Mayer

FULDA Neue Entwicklungen im Kampf gegen Adipositas

Dr. Jörg Simon: "Übergewicht ist längst mehr als ein kosmetisches Problem"

03.06.25 - Fulda – eine Stadt, in der Genuss großgeschrieben wird: gutes und deftiges Essen und süffiges Bier sind in der Region beliebt. Doch für Dr. Jörg Simon, Facharzt für Innere Medizin mit den Zusatzbezeichnungen Sportmedizin und Diabetologie, ist dies auch der Schauplatz eines wachsenden gesundheitlichen Problems. Übergewicht und krankhafte Adipositas haben in seiner allgemeinmedizinisch-internistischen Praxis in den letzten fünf bis sieben Jahren stark zugenommen. "Der Anteil krankhaften Übergewichts ist in dieser Zeit massiv angestiegen. Wir sehen eine rasante Zunahme", erklärt der Mediziner im Interview.

Die Gründe dafür seien vielschichtig, aber eindeutig: "Es ist der moderne Lebensstil – eine ungesunde Ernährung, Bewegungsmangel, hochverarbeitete Lebensmittel, der Trend zu sitzenden Bürojobs und eine zunehmende Mobilität ohne körperliche Aktivität", so der Experte. Dass Programme wie Weight Watchers jüngst Insolvenz anmelden mussten, überrascht ihn dabei nicht völlig. "Die Grundidee, das Abnehmen in der Gruppe halte ich für eine tolle Idee. Ich denke nicht, dass moderne Medikamente alleine die Firma zerstört haben. Sicherlich war das Management unzureichend."

Metabolisches Syndrom: die stille Gefahr

Ein zentrales medizinisches Schlagwort in diesem Kontext ist das metabolische Syndrom. "Es ist weltweit nicht einheitlich definiert, aber im Kern geht es um eine Kombination aus gestörter Glukosetoleranz, Insulinresistenz, erhöhtem Blutdruck und vor allem: abdomineller Adipositas", erklärt Dr. Simon. "Entscheidend ist der Taillenumfang – bei Frauen über 88 cm, bei Männern über 102 cm. Nur 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung liegen noch darunter."

Trotz seiner Limitationen gilt der Body-Mass-Index (BMI) noch immer als Standardmaß zur Bewertung des Übergewichts. Doch der Arzt gibt zu bedenken: "Der BMI ist einfach, aber nicht sehr aussagekräftig. Es gibt gesunde Übergewichtige oder auch Bodybuilder, bei denen der BMI fälschlicherweise ein Risiko signalisiert." Moderne Methoden wie Impedanzmessungen, wie sie beispielsweise von Herstellern kommerzieller Körperwagen angeboten werden, seien zwar in der Einzelmessung ungenau, könnten aber im Verlauf gute Trends zeigen, die sicherlich besser als der BMI geeignet sind.

Revolution in der Therapie – aber wo bleibt die Prävention?

Die Behandlung von Übergewicht hat sich in den letzten Jahren stark gewandelt. Besonders kritisch sieht der Experte die mangelnde Prävention: "Unser System ist auf Reparaturmedizin ausgelegt. Prävention spielt keine echte Rolle, weder politisch noch finanziell." Anreize fehlen, für Patienten ebenso wie für Ärzte. Programme der Krankenkassen seien symbolisch: "100 Euro im Jahr, das ist ein Tropfen auf den heißen Stein, wenn man das mit sonstigen Behandlungskosten vergleicht."

Alle oben genannten Folgen des metabolischen Syndroms könnten mit einer optimalen Gewichtseinstellung und mit Sport deutlich reduziert werden. Das könnte enorme Kosten sparen und die Lebensqualität und Erwartung enorm steigern.

Viel Aufmerksamkeit bekommen derzeit die sogenannten "Abnehmspritzen", Medikamente aus der Gruppe der GLP-1-Agonisten wie Semaglutid (Ozempic®, Wegovy®) oder Tirzepatid (Mounjaro®). "Sie wirken über drei Mechanismen: Sie hemmen das Hungergefühl im Gehirn, verlangsamen die Magenentleerung mit nachfolgendem, längeren Sättigungsgefühl und sorgen für eine bedarfsgerechte Insulinausschüttung", erklärt der Arzt.

Ursprünglich für Diabetes Typ 2 entwickelt, finden sie nun auch Anwendung bei Adipositas, Schlafapnoe, Fettleber (NASH), chronischer Nierenerkrankung, polyzystischem Ovarsyndrom und sogar Herzinsuffizienz, allerdings teils noch Off-Label. Das bedeutet, dass die Medikamente einen Zusatznutzen, allerdings noch keine Zulassung zur Behandlung eines bestimmten Krankheitsbildes haben und dennoch von Ärzten eingesetzt werden. Die Kosten der neuen Medikamente sind ein Problem: "Eine Therapie kostet bis zu 1.500 Euro pro Quartal und ist keine Kassenleistung. Das begünstigt natürlich finanziell starke Patienten."

Nebenwirkungen und ethische Fragen

Auch Nebenwirkungen sind zu beachten: Magen-Darm-Beschwerden wie Übelkeit, Durchfall oder Verstopfung treten bei etwa acht Prozent der Patienten zu Beginn der Behandlung auf. Zudem gibt es Tierversuchshinweise auf eine Zunahme beim Schilddrüsen- und Bauchspeicheldrüsenkrebs, wofür es aktuell jedoch keine Hinweise beim Menschen gibt. "Ein weiteres Problem ist der Muskelabbau, der bei nicht begleiteter Bewegung droht – der Gewichtsverlust ist somit ohne Sport nicht nachhaltig", warnt der Internist. Zudem fehlen Langzeitdaten über die Folgen bei längerer Einnahme.

"Die Medikamente wirken nur solange sie genommen werden. Setzt man sie ab, kommt häufig das Gewicht zurück." Die Therapie müsse also lebensbegleitend verstanden werden. "Und ohne begleitendes multimodales Konzept, also Ernährung, Bewegung und Muskelaufbau, bleibt der Erfolg langfristig fraglich."

Trotz aller offenen Fragen sieht Dr. Simon die Entwicklungen grundsätzlich positiv: "In Zukunft wird es orale Präparate geben, die günstiger und besser verfügbar sind. Das könnte die Therapie auch für breitere Bevölkerungsschichten zugänglich machen." Doch er mahnt zur Verantwortung: "Wir dürfen nicht vergessen: Medikamente alleine lösen das Problem nicht. Man muss selbst aktiv werden, um langfristig einen gesunden Lebensstil zu pflegen." (Adrian Böhm) +++


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