

Ricarda Messner erhält den städtischen Literaturpreis
06.06.25 - Ricarda Messners Debüt "Wo der Name wohnt" ist ein literarisches Mosaik aus Erinnerung, Verlust und der Suche nach Identität. Die Ich-Erzählerin begibt sich auf Spurensuche nach ihrer Familiengeschichte, die von Flucht, Migration und der Shoa geprägt ist. Den Fuldaer Literaturpreis erhält mit Messner eine Autorin, deren leise Leidenschaft und poetisch-präzise Beobachtungsgabe von der ersten bis zur letzten Seite überzeugen.
Die siebte Fuldaer Literaturpreisträgerin
Oberbürgermeister Dr. Heiko Wingenfeld begrüßte die Gäste im bis auf den letzten Platz besetzten Fürstensaal. Wie immer dankte er den Sponsoren, ohne die es nicht möglich wäre, diese Reihe kostenlos anzubieten, dem Team des Kulturamts um Dr. Thomas Heiler und der Jury des Fuldaer Literaturpreises. Nach Fulda gekommen waren die Juroren Silke Stamm, Anna Yeliz Schentke, Christoph Peters sowie Julia und Christoph Schröder. Ricarda Messner hatte ihren Lektor Jacob Teich vom Suhrkamp Verlag mitgebracht, "denn er hat immer an dieses Buch geglaubt", und ihre beste Freundin Anna Calabrese, "sie wohnt in Berlin im selben Haus wie ich, nur drei Stockwerke über mir"."Mit dem Literaturpreis knüpfen wir an unsere Wurzeln an", so der Oberbürgermeister, denn "das geschriebene Wort hatte in Fulda von Anfang an eine zentrale Bedeutung." Dann erzählte der OB, dass Ricarda Messner ihm beim "Sie haben den Preis gewonnen"-Telefonat gestanden habe, sie kenne Fulda eigentlich nur als ICE-Halt. Allerdings habe sie tags zuvor Mely Kiyaks Buch "Dieser Garten. Die unglaublich fabelhaften Nonnen aus Fulda und ihre genialen Erfindungen" in ihrer Lieblingsbuchhandlung erworben – als ausgleichende Lektüre nach der intensiven Schreibarbeit. Dieser Garten ist der Klostergarten der Fuldaer Benediktinerinnen. So war es nur konsequent, dass die unglaublich fabelhafte Schwester Christa Weinrich an diesem Abend zu Gast war und morgen eine exklusive Klostergartenführung für Ricarda Messner machen wird. Es gibt keine Zufälle, aber wunderbare Fügungen.
Ricarda Messners "tiefgründiges, vielschichtiges Buch sei eine Einladung, sich selbst zu reflektieren, Perspektivwechsel zu wagen und sich für die Geschichte der eigenen Familie zu interessieren, um neue Dialoge zu führen und Beziehungen neu zu sehen", so der Oberbürgermeister. Das war die perfekte Überleitung zur Laudatio auf die Autorin, die Anna Yeliz Schentke hielt. "Wie klingt Sprache, die nach Erinnerung sucht?", fragte Schentke und beschrieb den Roman als ein bewusstes Tasten durch Räume und Erinnerungen. Messners Buch sei die "poetische Erkundung der Zugehörigkeit, keine genealogische Erzählung." Dann las Ricarda Messner einige Passagen aus ihrem Buch – und hier ist gleich doppeltes Lob fällig: Sie las wunderbar lebendig, und wir konnten sie, dank Headset, alle hervorragend hören. Danke dafür!
Neben den Erinnerungen wohnen Messner verwebt in ihrem Erstlingsroman persönliche Erinnerungen mit historischen Dokumenten, Liedtexten und letzten Sprachnachrichten der Großmutter: "Dazu musste ich genau dort anfangen, wo ich heute noch immer wohne, im zweiten Stock des Hauses direkt neben dem Haus, in dem meine Großeltern in einer Mietwohnung gelebt haben, also direkt neben den Erinnerungen. Das Bild einer unmittelbaren räumlichen Nähe interessierte mich, vor allem für die Bewegungen unserer Familie, welche Abstände, Abläufe, Verflechtungen und Verluste lassen sich aus dieser Nachbarschaft heraus erzählen. Überhaupt, wie funktioniert Erinnerung, wenn man alltäglich an ihr vorbeiläuft?" Diese beiden Wohnungen, aber auch das Haus des Urgroßvaters in Berlin, Häuser oder Straßen in Riga oder der Badestrand Jurmalas spielen eine besondere Rolle.
Messner selbst fasst den Begriff des ‚Ortes‘ noch weiter – Zwischenräume, Verbindungen von Ländern, Zimmer, Treppenhäuser sind genauso Orte wie Kassenzettel ihrer Großmutter: "Wahrscheinlich ist die Erinnerung für mich sowieso zum wichtigsten Ort der Erzählung geworden. Ich stelle sie mir immer als einen Raum vor, durch den sich hindurchlaufen lässt, den man jedes Mal ein bisschen neu einrichten kann." Auch deutsche Behördenpost wird zu solchen Erinnerungen. Ein zentrales Element sind die bürokratischen Hürden, die die Protagonistin bei ihrem Wunsch nach Namensänderung erlebt. Die Gründe für die Ablehnung seitens des Amts sind mannigfaltig, das klingt ein bisschen nach Kafka und ziemlich viel nach deutscher Amtsstube. Die Struktur des Romans ist nicht linear; sondern springt zwischen verschiedenen Zeitebenen und Orten. Diese Fragmentierung entspricht den Brüchen und Lücken in der Familiengeschichte.
Messner selbst beschreibt den Schreibprozess als Versuch, mit den Verstorbenen im Gespräch zu bleiben: "Ich habe viel darüber nachgedacht, dass jede Erzählung auf ihre Weise letztlich wieder eine Verwaltung, eine (An-)Ordnung des Lebens ist. Wie geht man dabei aber mit den Toten um? Ich habe mich bemüht, dass besonders diejenigen, die nicht mehr leben, mich an die Hand nehmen." So entsteht die Geschichte vererbter Traumata, wie sie typisch ist für die Überlebenden der Shoa auch in dritter Generation – heute spricht man oft von einem "transgenerationalen Trauma".
Dass Messner es schafft, nie sülzig-sentimental zu werden, sondern sich den ‚Orten‘ mit respektvoller Liebe zu nähern, ist die große Stärke dieses Texts. Sie erzählt von dem, was verloren ging, aber indem sie das Verlorene zu fassen bekommt, bewahrt sie es auch. Sie lässt Lücken, vielleicht unumgänglich, wenn man sich behutsam in die eigene Geschichte vortastet. Sie beschönigt nichts. Das Herz der Dunkelheit dieses Romans liegt im Rigaer Ghetto des Jahres 1941 – und in der Kollaboration lettischer Nationalisten mit den deutschen Besatzern, die zur Ermordung zehntausender Jüdinnen und Juden führte.
"Wo der Name wohnt" ist ein leises, eindringliches Buch, das vom Ungeheuerlichen der Shoa erzählt. Messner versucht, die Stimmen der Vergangenheit hörbar zu machen und ihre eigene Identität in diesem komplexen familiären Geflecht zu verorten. Ob dies nun ein Roman ist oder ein Stück Autobiographie, sei dahingestellt. Mit der Benennung ‚Roman‘ erlaubt Messner sich eine stärkere Fiktionalisierung, die Zuspitzungen und Auslassungen ganz anders möglich macht, als es ein biographischer Text getan hätte.
Wie in jedem Jahr hatte Karlos Aha die beeindruckend schöne Urkunde für den Literaturpreis der Stadt Fulda gestaltet. Den Text las der Oberbürgermeister mit sichtlichem Stolz vor – und Ricarda Messner sah man an, dass dieser Preis ("mein erster"), dieser Raum ("eine völlig andere Realität, als wenn man das auf Google sieht") und so viel Lob sie schier überwältigten.
Immer wieder ein Genuss – die Fuldaer Musikschule Für die musikalischen Akzente sorgte einmal mehr die Fuldaer Musikschule. Daniel Nikolaus Wirtz begeisterte mit "The reluctant bride" auf der Gitarre, ein Stück, das Jazz, Klassik und Rhythmik vereint und auf einer Figur aus Shakespeares "The Tempest" basiert. Theo Günther spielte auf dem Euphonium Opus 3/1 in F-Dur von Anton Rubinstein, eine sehr bekannte und beliebte Melodie – und bewies, dass er zu den ganz besonderen Talenten der Musikschule gehört. Denn das Euphonium, das im Klang der Tuba gleicht, zu beherrschen, ist ein ausgesprochen anspruchsvolles Instrument. Auch die Kulisse einer Preisverleihung im Fürstensaal muss man nervlich durchstehen – Theo Günther meisterte auch das mit Bravour. Den Schlussakzent setzte Daniel Nikolaus Wirtz mit seiner Eigenkomposition "Petrópolis". Literarisch ein durchaus beziehungsreicher Titel, denn Stefan Zweig lebte einige Jahre in der brasilianischen Stadt und schrieb hier die "Schachnovelle". Ich erlebe die Lehrer:innen und Schüler:innen der Musikschule in ganz unterschiedlichen Konzerten und bin immer wieder begeistert über die Qualität, die sie bieten.
Wie jeder Literaturabend klang auch dieser bei Gesprächen, Wein und Brez’n aus. Fulda hat mit Riccarda Messner eine vielversprechende, sympathische Preisträgerin. Wünschen wir ihr und uns, sie mit vielen weiteren Werken in der Barockstadt Fulda erleben zu können. (Jutta Hamberger) +++