

Wenn die gutbürgerliche Maske fällt - Yasmina Rezas: "Der Gott des Gemetzels"
29.06.25 - Was haben Yasmina Reza und Loriot gemeinsam? Beide sezieren lustvoll gutbürgerliches Verhalten, man bewegt sich permanent am Rande des bürgerlichen Irrsinns. Für uns Zuschauer ist das ziemlich komisch und ziemlich erkenntnisreich. Mit der Premiere von Rezas Erfolgsstück "Der Gott des Gemetzels" war also alles angerichtet für einen höchst unterhaltsamen Abend in Schloss Eichhof.
Die Entlarvung des Gutbürgerlichen Das Stück wurde vor knapp 20 Jahren in Zürich uraufgeführt und hat seither nichts von seinem Reiz verloren. In dieser Hersfelder Festspielsaison inszenierte es Jule Ronstedt, mit Mara Widmann und Michele Cuciuffo als Ehepaar Houillé (die Eltern des ‚Opfers‘) und Lucca Züchner und Thorsten Krohn als Ehepaar Reille (die Eltern des 'Täters').
Dass diese Elternbegegnung, um die es im Stück geht, grandios scheitern wird, wissen wir schon nach zwei Minuten. Da nämlich hat Véronique Houillé konstatiert, man werde sich ja nicht von Gefühlsmechanismen leiten lassen, da man die Kunst des zivilisierten Umgangs miteinander beherrsche. Schnell entstehen Irritationen – der von Michel entsorgte Hamster der Tochter (zu laut), das Clafoutis seiner Frau Véronique (besonderes Rezept) oder Alains Dauertelefonate mit einem seiner größten Klienten. Und so werden wir Zeuge, wie ein kleines Ereignis zu einem großen mutiert. Zwei Elfjährige haben sich im Park gestritten und geschlagen, und wie das so ist, geht einer als Sieger vom Platz, und der andere hat zwei eingeschlagene Zähne. Nicht schön, gehört aber doch in die Kategorie "kann so jeden Tag unter Jugendlichen passieren".
Wenn der Kulturfirnis wegbröckelt In dem Moment, in dem die Eltern sich einmischen, verändern sich Statik und Dramatik. Schnell spüren wir, hier geht es nicht um die von Véronique mantrahaft beschworene Gerechtigkeit, auch nicht um eine Entschuldigung, sondern einzig ums Rechthaben. Es geht auch nicht um eine Lösung, sondern um die tiefe Befriedigung durch 'zivilisierte' Erniedrigung des Gegenübers. Und weil Rechthaben viel mehr Spaß macht, wenn man dabei kleinere und größere Spitzen austeilt, wird aus dem Geplauder über dem Kaffee schnell ein heftiger Wortwechsel, der immer hitziger wird, bis die Begegnung schließlich außer Kontrolle gerät. Kommt Ihnen das bekannt vor? Kein Wunder, denn der "Gott des Gemetzels" wird derzeit auch in einigen Regierungssitzen aufgeführt.
Der Blick hinter die Masken offenbart: Michel ist keineswegs so teddyhaft gemütlich, wie er tut, sondern ziemlich rabiat. Alain ist Zyniker durch und durch. Annette ist zusehends mehr von ihm genervt. Ihre permanente Appeasement-Politik Alain und den Houillés gegenüber schlägt um in Übelkeit, Erbrechen und Angriffslust. Véronique wiederum rastet aus, als ihr kostbarer Kokoschka-Katalog darunter leidet. Und wohl alle sind schadenfroh zufrieden, als Alains Handy endlich in der Tulpenvase landet. Die Diskussionen werden hitziger, die Koalitionen wechseln beständig, wir sind längst über Gespräch und Auseinandersetzung hinweg und mittendrin in einem verbalen Duell. Moral, Ethik, Haltung, Kultur – alles Konstrukte. Beim kleinsten Widerstand werden sie aufgegeben.
Das Lachen bleibt einem im Hals stecken Dieses Entgleisen zu beobachten ist komisch, und doch schluckt man immer wieder. Sind wir wirklich so schnell so nackt? Ist Kultur tatsächlich nur ein Firnis? Müssen wir immer aus Mücken Elefanten machen? Was zwingt uns dazu, uns derart in den Vordergrund zu spielen?
In Rezas Stück scheitern vier Erwachsene, die ein kleineres Problem souverän im Vorbeigehen lösen wollten. Als es nämlich um die eigenen Schwächen und Empfindlichkeiten geht, zerfallen Selbstbilder und Weltbilder in atemberaubendem Tempo – nur nicht das Alains, der als Zyniker schon immer an den Gott des Gemetzels geglaubt hat. Wieder bestätigt sich: Wer von sich behauptet, besonders gebildet und kultiviert zu sein, ist das nicht. Das eine schließt das andere kategorisch aus.
Yasmina Rezas Kammerspiel passt vorzüglich in den intimen Eichhof, der die Intensität des Stücks noch befeuert. Schade, dass es eine Pause gab, man hätte diesem permanent hochdrehenden Stück gern ohne Unterbrechung weiter zugesehen. Das Bühnenbild beschränkt sich auf wenige Requisiten, denn der Fokus liegt auf den Schlagabtauschen der Schauspieler. Mara Widmann, Michele Cuciuffo, Lucca Züchner und Thorsten Krohn spielen das gut und haben sichtlich Spaß an der Sache. Die Doppelbödigkeit und Hinterfotzigkeit des Stücks begeisterte das Publikum, das sich mit viel Beifall bedankte. (Jutta Hamberger) +++