
Kirmesgänger wird handgreiflich: Notärztin muss ihren Dienst abbrechen
06.11.25 - Eine Person ist im Kirmeszelt offenbar bewusstlos, der Sicherheitsdienst einer Kirmesveranstaltung ruft den Rettungsdienst. Dieser trifft ein, auch die diensthabende Notärztin eilt an den Einsatzort. Es ist mitten in der Nacht vor dem Veranstaltungsort. Die medizinische Indikation erfordert den Transport der Person in ein Krankenhaus.
Diese kommt langsam zu sich, findet die rettungsdienstlichen Maßnahme offenbar nicht notwendig und wird ausfallend, sogar handgreiflich gegenüber den Rettern. Die Notärztin muss ihren Dienst aufgrund einer durch den Patienten erfolgten Verletzung abbrechen. Was, wenn in dieser Nacht ein anderer Mensch um sein Leben kämpft und auf schnelle Hilfe angewiesen ist?
Das NEF war vier Stunden lang nicht verfügbar
Genau das ruft am meisten bei ihr Unverständnis hervor: "Das NEF (Notarzteinsatzfahrzeug) war für vier Stunden nicht mehr verfügbar. Im Ernstfall hätte der nächste Notarzt von einer anderen Station anfahren müssen", sagt sie im Gespräch mit OSTHESSEN|NEWS. Sekunden können über Leben und Tod entscheiden, eine längere Anfahrtszeit also verheerende Folgen haben. Aufgrund von Patienten und Datenschutz möchte sie ihren Namen und den Ort des Vorfalls nicht nennen.Rettungsdienstleiter Björn Wettlaufer vom Deutschen Roten Kreuz (DRK) Rettungsdienst Waldhessen wird deutlich: "Wir stehen hinter unserer Notärztin. Verletzungen gegenüber unseren Mitarbeitern sind nicht zu akzeptieren und zu tolerieren. Wir wollen doch den Menschen helfen, fragen nicht, wer in Not ist." Er fordert angemessene Strafen durch die zuständigen Justizbehörden. Körperliche Gewalt ist in der ländlichen Region bei Einsätzen des Rettungsdienstes zum Glück die Ausnahme. Verbale Entgleisungen kommen dagegen öfters vor. "Unser Mitarbeiter sind auch nur Menschen. Jede Attacke hinterlässt ihre Spuren, auch seelisch", sagt Wettlaufer. Er ist gleichzeitig auch Organisatorischer Leiter Rettungsdienst (OLRD).
Vertrauen auf Halbwissen aus dem Netz
Der geschilderte Fall ist Anlass, hinter die Kulissen zu schauen. Was sind die Gründe für die Aggressionen? Wieso reagieren Menschen gegenüber den Rettern so? Die Grundstimmung habe sich verändert, schildern sie im O|N-Gespräch. Dies habe viele Gründe. Viele Menschen beschäftigen sich nicht mehr mit ihrer Gesundheit oder vertrauen auf Halbwissen etwa aus den sozialen Medien. Das allgemeine Verständnis über den eigenen Körper sei nicht mehr gegeben. Wann muss ich die Notrufnummer 112 wählen, wann reicht es völlig, zum Hausarzt zu gehen oder einfach nur den Schnupfen auszukurieren oder auf Hausmittel zu vertrauen. Was hilft überhaupt?Der Rettungsdienst wird immer wieder zu Einsätzen gerufen, welche ein schnelles Eingreifen des mobilen Personals oder gar der Notärzte nicht erfordert. "Viele bestehen sofort auf ihr Recht und haben ihre Vorstellungen, wie sie behandelt werden müssen, dass sie mitgenommen werden, obwohl unsere, nach der Untersuchung qualifizierte medizinische Einschätzung dies gar nicht erfordert", sagt die Notärztin. Dadurch kommt es schnell zu verbalen Entgleisungen, wenn die Retter nicht "spuren" und den Wünschen des Patienten entsprechend handeln. Vielleicht sogar eine andere medizinisch versierte Meinung aufgrund ihres Fachwissens haben.
Schlechte Erreichbarkeit der Hausärzte, wenn es denn am Dorf überhaupt noch medizinisches Personal gibt oder die Hürden des ärztlichen Bereitschaftsdienstes. Es sind viele Faktoren, welche die Menschen zusätzlich verunsichern. Die "112" ist dann schnell gewählt. Ein Ansatz, dem entgegenzuwirken, sei eine bessere Aufklärung, Prävention, Erste Hilfe und Gesundheitsvorsorge, erklärt die Notärztin.
Die "legale" Droge Alkohol wird unterschätzt
Ein weiteres Problem sei der gesellschaftliche Umgang mit der "legalen Droge" Alkohol. Während oftmals über die illegalen Drogen gesprochen werde, müssten die Gefahren des Alkohols mehr thematisiert werden. "Inzwischen empfiehlt auch die WHO (Weltgesundheitsorganisation, die Red.) auf den kompletten Verzicht von Alkohol, also auch auf das eine Glas Wein pro Tag", sagt die Medizinerin. Im Jahr 2022 habe es in Europa 6.400 illegale Drogentote gegeben, rund 800.000 Menschen seien an den Folgen des Alkoholkonsums verstorben, berichtet sie. Alkohol verursache schwere Krankheiten, aber eben auch Aggression und Gewalt.Seit acht Jahren ist sie Notärztin. Zudem ist sie ehrenamtlich im Katastrophenschutz tätig. Wieso sie dies tue, werde sie von Freunden immer wieder gefragt. Sie möchte ihren Beitrag für die Gesellschaft leisten, möchte den Mitmenschen in Not helfen. Bei aller Wut über die Entgleisungen sagen die Vertreter des heimischen Rettungsdienstes: Die meisten Menschen sind einfach nur dankbar, sind froh, wenn wir kommen.
Trotzdem ist es notwendig, die negativen Fälle zu thematisieren, die Gesellschaft wachzurütteln. Der Wandel unserer Zeit, die Hektik, der Druck und die Herausforderungen im Alltag belasten viele Menschen. Aus der Unsicherheit heraus entsteht der Egoismus, entsteht das gereizte Verhalten auch gegenüber denjenigen, die gerufen werden, um zu helfen. Am Einsatzort war zu hören, dass die verdächtige Person normal "nett" sei, bei Alkoholgenuss jedoch ein Aggressionspotenzial entwickle, gibt der Notärztin zusätzlich zu denken. Diese Person gefährdet nicht nur sich selbst.
Wie groß wird erst der Aufschrei, wenn Sekunden über Leben und Tod entscheiden und kein Notarzt mehr verfügbar ist? Deswegen haben sie den Weg in die Öffentlichkeit gewählt. Verbale und körperliche Gewalt dürfen kein Tabuthema mehr sein. (Hans-Hubertus Braune) +++

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