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Wo die systematische Rassenverfolgung begann - Novemberpogrome 1938
08.11.13 - Es sind heute auf den Tag genau 75 Jahre her, dass in Rotenburg/F. - wie in tausenden Orten Deutschlands - fast alle jüdischen Wohnhäuser demoliert wurden - ausgelöst durch die Nachricht vom Attentat des 17-jährigen Juden Herschel Grünspan (Herschel (Hermann) Feibel Grynszpan) in Paris auf den deutschen Botschaftssekretär Ernst vom Rath. Am Folgetag verwüsteten die Randalierer auch in der Fuldastadt die Synagoge und verbrannten jüdische Schriften auf der Straße. Diese Übergriffe auf Eigentum und Leben der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger wurden in aller Öffentlichkeit verübt und nahezu alle sahen weg, als für die jüdischen Deutschen mit den Novemberpogromen ein einziger Albtraum unermesslichen Ausmaßes begann.
In Rotenburg konnte aus der brennenden Synagoge lediglich die Thora-Rolle gerettet werden, die jetzt im Jüdischen Museum in der ehemaligen Mikwe aufbewahrt wird. Gestern hat der Rotenburger Bildhauer Martin Schaub auf dem Gelände neben dem Museum eine Installation mit dem Titel „1938 – 1945" aufgebaut unter der Verwendung von drei großen Bildern, die seine verstorbene Frau Miriam zusammen mit Schülerinnen und Schülern der Jakob-Grimm-Schule gestaltet hat. Im Tagesverlauf wurden in der Stadt außerdem elf weitere Stolpersteine verlegt, so dass jetzt insgesamt 54 Stolpersteine an das Schicksal der Menschen erinnern, die von Nationalsozialisten vertrieben und ermordet wurden.
Die Verlegung der Stolpersteine vor dem Haus Neustadtstraße 1 für Gretel Goldschmidt geb. Brandes und Margit Goldschmidt wurde von Angehörigen der ehemaligen Bewohnerinnen vorgenommen. Sichtlich berührt gaben Deanne Brandes-Mendelow, Gretel Brandes-Aumann so wie Lisa und Mike Mendelow den NS-Opfern ihre Namen zurück. Die Erste Kreisbeigeordnete Elke Künholz würdigte in ihrer Ansprache die Verlegung der Stolpersteine mit den Worten: „Man stolpert nicht und fällt hin, man stolpert mit dem Kopf und mit dem Herzen".
Dr. Heinrich Nuhn, Vorsitzender des Fördervereins des Jüdischen Museums, trug den so tragisch endenden Lebenslauf von Gretel und Margit Goldschmidt vor. Lisa Brandes-Mendelow fand bewegende Worte für das unfassbare Geschehen in Erinnerung an ihre Cousine. Die Angehörigen, die aus den USA und Südafrika nach Rotenburg angereist sind, weilen seit Dienstag in der Stadt und nahmen nach der Verlegung der Stolpersteine auch an der sich anschließenden, dem Anlass höchst angemessenen Gedenkveranstaltung in der Stiftskirche Rotenburg teil.
Bürgermeister Christian Grunwald erinnerte eindringlich an die Greueltaten vor 75 Jahren. Marita Natt, Prälatin der Landeskirche von Kurhessen und Waldeck, musste gestehen: „Auch die Kirche hat weitestgehend geschwiegen". Sabine Rimbach, Schulleiterin der Jakob-Grimm-Schule, versicherte, dass dieses Thema im Geschichtsunterricht nicht nur intellektuell vermittelt wird, sondern die Schülerinnen und Schüler auch emotional erreichen soll.
Emotionaler Höhepunkt der Gedenkveranstaltung war die Ansprache von Gretel Brandes-Aumann, der Namensschwester von Gretel Goldschmidt geb. Brandes. „Niemals kann man den kaltblütigen Mord an sechs Millionen unschuldigen Menschen begreifen. Anständige, rechtschaffende und patriotische deutsche Bürger wurden gedemütigt, entrechtet und ihrer Würde beraubt. Wir stehen hier, wo genau vor 75 Jahren die systematische Rassenverfolgung begann. Diese furchtbaren Vorfälle können nicht rückgängig gemacht werden. Aber es ist den großen Anstrengungen, dem Mitgefühl und sorgfältigen Bemühungen von rechtschaffenen Menschen wie Dr. Heinrich Nuhn und Gunter Demnig (Initiator Stolpersteine) zu verdanken, dass die Erinnerung erhalten bleibt und wir heute einen gewissen Abschluss finden können". Diese Worte sind Teil ihrer anklagenden wie versöhnlichen Rede gleichermaßen.
„Havenu schalom alejchem/Wir wünschen Frieden euch allen"
Musikalisch umrahmt wurde die Gedenkfeier von Trommlern des Gospelchores unter der Leitung von Ernst Kreis, dem „Ensemble Vierklang" unter der Leitung von Eva Gerlach, dem Posaunen-Auswahlensemble der Kirchenkreise Hersfeld und Rotenburg unter der Leitung von Landesposaunenwart Marshall Lamohr und dem Saxofonisten Thomas Heid. Er war musikalisch eingebunden in das von sieben Sprechern vorgetragene „Schuldbekenntnis", das mit dem Entzünden von sieben Kerzen auf einer großformatigen Menora verbunden war. „Havenu schalom alejchem/Wir wünschen Frieden euch allen" war der gemeinsam gesungene Wunsch zum Abschluss. (Gudrun Schmidl) +++

Die Installation von Martin Schaub bleibt bis zum 10. November stehen. Gelb galt früher als diskriminierende ...

Deanne Brandes-Mendelow und Gretel Brandes-Aumann verlegen den Stolperstein für Gretel Goldschmidt ...