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Menschengeschichten - Lesung von Barbara WAGNER im Stadthotel
09.03.14 - Es sind nicht ihre eigenen Erinnerungen, die Barbara Wagner aus Breitenbach am Herzberg niedergeschrieben und gebündelt in ihrem Buch „mittendrin nachgefragt" veröffentlicht hat. 24 Menschengeschichten aus ihrem Heimatort hat sie zusammengetragen, die zu den Lebenserinnerungen der älteren, inzwischen größtenteils verstorbenen Breitenbacher Bevölkerung gehören. „Als die ersten von mir befragten Leute starben, wurde es für mich wichtig, ihre Geschichten für die Nachwelt zu erhalten".
Seit über 30 Jahren lebt die pensionierte Grundschullehrerin in der Gemeinde, in der ihr Mann Dr. Gerhard Wagner ab 1983 in einer tierärztlichen Gemeinschaftspraxis wirkte. „Ein Tierarzt gehört aufs Land", bekräftigt Barbara Wagner die damalige Entscheidung, von der Stadt in das hessische Dorf zu ziehen, obwohl sie als Tierarztfrau und damit die „rechte Hand" ihres Mannes durch das Telefon mit Schnur nach ihren Angaben „angebunden war wie eine Kuh".
Ihr Sohn Sebastian und ihre Tochter Katrin wuchsen in der Geborgenheit der Dorfgemeinschaft auf. „Auf dem Dorf sind alle Kinder „Jedermannskinder", weiß sie aus Erfahrung. Das Ehepaar Wagner, dass sich in jungen Jahren in Gießen kennen und lieben lernte, hat sich schnell in das örtliche Leben integriert und eingebracht. Barbara Wagner war damals und ist noch heute Übungsleiterin der Gymnastikgruppe und lacht: „Gemeinsam sind wir alt und gebrechlich geworden". Außerdem engagierte sie sich in der Kirchengemeinde und übernahm es, im Gemeindebrief die Rubrik „Damals" mit Leben zu füllen.
„Um die Geschichten zu schreiben, brauchte ich Informationen, die ich nicht hatte". Sie wandte sich an die ältesten Einwohner im Dorf, die ihr bereitwillig Türen und Herzen öffneten und als „Interviewpartner" zur Verfügung standen. „Man wurde schnell vertraut. Die Gesprächspartner versanken in Erinnerungen in eine mir unbekannte Welt, erzählten von ihrem Leben in der Zeit von 1900 bis zum zweiten Weltkrieg und die schwere Zeit danach". Das eilig Mitgeschriebene brachte sie zeitnah zu Papier, später benutzte sie ein Diktiergerät. Eine schöne Aufgabe für Barbara Wagner, deren Passion es ist, Geschichten zu schreiben und den Menschen damit eine Freude zu machen. Der Werdegang der humorvollen Autorin würde ihre damaligen Lehrer überraschen. Barbara Wagner zitiert höchst selbst aus ihrem ersten Zeugnis in der Grundschule: „Barbara hat eine ausgedehnte Fantasie, ist sehr kreativ, aber ernsthaftes Arbeiten ist nicht ihre Sache".
Die Kreativität blieb ihr erhalten, denn über Jahre florierte ihr Kunstgewerbe, bei dem sie mit anderen Kunstschaffenden zusammengearbeitet hat. Vor allem liebt sie die Seidenmalerei. Eines ihrer Werke - Breitenbach in hügeliger Landschaft, eingerahmt vom Herzberg und dem Rimberg in der untergehenden Sonne - ziert im Kleinformat das von ihr herausgegebene Buch.
Im Jahr 2001 nahm ihr Berufsleben noch einmal eine unerwartete Wendung: „Ministerpräsident Roland Koch hat nach Lehrerinnen und Lehrern geschrien", erzählt sie. „Eigentlich hatte ich eine Rückkehr in meinen Beruf schon 1981 abgehakt wegen der Tierarztpraxis und der Erziehung der noch kleinen Kinder". Doch sie wagte den Sprung ins eiskalte Wasser oder besser gesagt zurück in den Schuldienst. Zunächst war sie in der Breitenbacher Grundschule tätig, weitere elf Jahre bis zur Verrentung unterrichtete die Pädagogin an der Gerhart-Hauptmann-Schule in Alsfeld.
Am Donnerstag folgte Barbara Wagner der Einladung des Bad Hersfelder Hausfrauenbundes in das Stadthotel und lud die zahlreich erschienenen Mitglieder bei ihrer 15. Lesung zu einer Zeitreise ein, bei der das einstige Leben auf dem Lande mit dessen Geräuschen, Gerüchen und Gefühlen wieder lebendig wird. Gefühle, die in ihrem Buch auch in dem Kapitel „Neue Heimat Breitenbach" aus der Sicht einer Vertriebenen geschildert werden. Weitere Breitenbacher Bürgerinnen und Bürger erinnerten zum Beispiel an die „Heuernte", den „Waschtag" oder die „Heidelbeerzeit". Barbara Wagner ist es gelungen, mit ihrem einfühlsamen Schreibstil aufzuzeigen, was die Menschen mit ihrer Vergangenheit verband, lieb gewonnene Eigenarten und den schmerzlichen Verlust derselben eingeschlossen.
Passend zur Thematik der Veranstaltung, die „Jugendzeit", nahm die Autorin ihre Zuhörerinnen mit auf die Breitenbacher Kirmes, die seinerzeit von den beiden Kirmeswirten Schaacke und Reidt ausgerichtet wurde. Das Lesen wechselte sich ab mit gemeinsam gesungenen Liedern im Bezug auf das Gehörte und mit einem regen Gedankenaustausch aller Anwesenden, die selbst aus eigener Erfahrung von damals berichteten. Natürlich durften die Begebenheiten in der „Spinnstube" nicht fehlen, war es doch eine willkommene Gelegenheit, den jungen Herren in allen Ehren näher zu kommen.
Ihre eigenen Erinnerungen und ihr Wissen gibt Barbara Wagner inzwischen an ihren dreieinhalb Jahre alten Enkelsohn Arne Gerhard weiter, denn sie weiß als Pädagogin um die Neugier und das Interesse der Kinder an der Vergangenheit. Wenn er sie in Breitenbach besucht, muss sie mit ihm auch immer in einen Kuhstall gehen. Nachschauen, ob die Kühe wirklich angebunden sind......! (Gudrun Schmidl) +++