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Holocaust-Zeitzeuge Moshe BIRNBAUM bei Schülern
05.05.14 - Als Moshe Birnbaum aus dem deutschen Konzentrationslager Riga (Lettland) frei gelassen wurde, wog er nur noch magere 25 Kilogramm. "Mir wurde alles genommen - meine Eltern, meine Geschwister, mein ganzer Besitz - ich wusste nicht einmal, wo ich ein Stück Brot zum Essen herbekommen sollte", sagte der 86-Jährige, der 1928 in Fulda geboren wurde. Er besuchte am Montagmorgen gemeinsam mit seinen Söhnen die neunten Klassen der privaten Handelsschule Herrmann in Fulda. Schulleiterin Dr. Evelyn Backhaus hatte mit dem Zeitzeugen eine Fragerunde mit den Schülern organisiert, um für sie die Zeit des Nationalsozialismus und den Holocaust besser begreiflich machen zu können.
Im Seminarraum der Schule war beim Eintreten von Moshe Birnbaum völlige Ehrfurcht der Schüler zu spüren. Kein Gekicher, keine Blödeleien. "Es ist eine besondere Erfahrung für die Schüler, man hat ihnen die ehrliche Ergriffenheit ansehen können", sagte Dr. Evelyn Backhaus im Gespräch mit osthessen-news.de.
Die Autorin und Historikerin Anna Andlauer bereitete die 14- und 15-Jährigen mit einem Einführungsvortrag auf die Fragerunde vor: In ihrem Buch "Zurück ins Leben" beschäftigte sie sich mit der Lebensgeschichte von Greta Fischers - einer Frau, die nach dem Holocaust viele Kinder im Kloster Indersdorf aufgefangen hat. Als kleines Kind wurde der Fuldaer Birnbaum nach Riga deportiert. Erst nach Jahren kam er zurück in seine Heimatstadt. "Ich reiste zurück nach Fulda in der Hoffnung jemanden zu finden, aber alle meine Lieben wurden ermordet", berichtete Birnbaum.
Für den Holocaust-Überlebenden war es nicht leicht, jetzt nach Fulda zurückzukehren - viele negative Erlebnisse sind tief in seinem Gedächtnis verankert. Er musste alleine mit dem Erlebten zurecht kommen. "Ich kann einfach nur hoffen, dass die kommenden Generationen aus der Geschichte lernen und so etwas wie einen erneuten Nationalsozialismus verhinderen", sagte der 86-Jährige. Seine Söhne nahmen den sehr bedrückten Schülern ein wenig die Angst, etwas Falsches zu sagen oder zu fragen: "Wir sind nicht hier, um jemanden schuldig zu sprechen oder in irgendeiner Form Ärger zu verbreiten. Viele Menschen wollen die Geschichte in der Vergangenheit zurücklassen. Wir wollen viel lieber, dass man daraus lernt", sagten Birnbaums Söhne: "Jeder Mensch muss sich seiner Verantwortung bewusst sein." Denn wie konnte es möglich sein, dass so viele Menschen tatenlos bei den Gräueltaten des Holocaustes zugesehen haben ?
"Wie soll man sich fühlen, wenn der Nachbar auf die Straße gezerrt wird und einen Schuss in den Kopf bekommt? Und am nächsten Tag der andere Nachbar und am Tag darauf Kinder?", fragten sie in die Runde. "Ich hätte versucht zu helfen und das zu verhindern", sagte ein Schüler mit zittriger Stimme. Für die Neuntklässler war der Schmerz, den die NS-Zeit verbreitet hat, plötzlich greifbar und von jugendlicher Leichtigkeit war nichts zu spüren. Der Ernst des Geschehenen war spürbar.
"Ganz wichtig ist: 1938, als mein Vater nach Lettland deportiert wurden, war es längst zu spät, um einzugreifen", sagte Birnbaums Sohn, "man hätte den Prozess dieser Hassentwicklung viel früher unterbinden müssen und deshalb sind wir auch hier. Man muss begreifen, dass solch ein Hass wie auf die Juden, oder egal auf welche Religion, Sexualität oder Glaubensrichtung, nie mehr entstehen darf. Ihr seid die kommende Generation, die das verhindern muss." Für die Schüler war diese Unterrichtsstunde eine einmalige Gelegenheit, die Geschichte ganz nah vor Augen zu haben. In einem waren sich die meisten Schüler jedoch einig: "Wir können uns gar nicht vorstellen, wie diese Zeit gewesen sein muss." (Julius Böhm)+++