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Bad Hersfelder Demokratie: Ein Klempner wird der neue Freytag
08.08.14 - Noch sind Sommerferien, aber ab September lernen auch die Schüler in Osthessen wieder im Geschichts- und Gemeinschaftskunde-Unterricht die Merkmale einer demokratischen Staatsform kennen. Sie erfahren, dass die Demokratie ein politisches System ist, bei dem das Volk eine mitbestimmende Funktion einnimmt. Und sie lernen ebenfalls, wofür FDP-Chef Christian Lindner erst vor wenigen Tagen plädiert hat, dass der Staat „Eigeninitiative nicht einfach verdrängt“. Im Erdkunde-Unterricht hat der Lehrer dann die Aufgabe, den Schülern irgendwie zu erklären, warum Bad Hersfeld nicht in Russland oder in einer Bananenrepublik, sondern in der Heimat liegt.
Was auf den ersten Blick schwierig zu verstehen ist, wird bei genauerer Betrachtung dann doch plausibel. Natürlich gelten auch im Bad Hersfelder Rathaus demokratische Spielregeln. Und selbstverständlich schätzt auch der FDP-Bürgermeister Thomas Fehling die Eigeninitiative der Bürger, nur halt zusammen mit den Magistratsmitgliedern auf die ihm ganz eigene Weise. Es ist an der Zeit, für den Mann, der zuletzt heftig unter Beschuss stand, eine Lanze zu brechen.
Ok, der Magistrat wollte sich am Montag nicht noch einmal mit der Kündigung des Intendanten Holk Freytag befassen. Das ist ehrlich und verständlich. Denn wie hätte man dem Neffen eines der Stadträte, dem die Ausbildung zum Klempner stinkt, beibringen sollen, dass er jetzt doch nicht der neue Intendant wird? Fehling hatte ihm das im April versprochen, und der Rathauschef hält sein Wort. Außerdem standen auf der Tagesordnung wichtigere Punkte, etwa das schwierige Abrubbeln von Kaugummiflecken auf dem Parkplatz des Bürgermeisters und die Vorverlegung der Abholung der gelben Säcke im Sonnenweg montags von 8.15 Uhr auf 8.10 Uhr.
Trüge Bad Hersfeld nur den Hauch antidemokratischer Züge, die mehr als 10.000 Unterschriften zur Rettung des bisherigen Festspiel-Intendanten wären umgehend zerschreddert, verbrannt oder verbuddelt worden. Doch was macht Fehling, dieser Teufelskerl, der nächste verdiente Gewinner des Point-Alpha-Preises und der Goldenen Kamera? Als demokratischer Liberaler stellt er den Stadträten die ihm übergebenen Unterschriften zur Einsichtnahme zur Verfügung. Mein Gott, ist das groß! Hat das Stil! Chapeau! Das ist nicht nur ein Akt tiefgehender Symbolik. Nein, wer die Magistratsmitglieder kennt, der weiß, wie penibel diese jede einzelne Unterschrift analysieren und auswerten, sensibel auf die leichtesten Vibrationen innerhalb der Bevölkerung reagieren und sich dann nachts unruhig im Bett wälzen. Schwingt in der Signatur von A. Müller nicht leichte Unzufriedenheit mit, warum macht B. Müller beim „M“ einen größeren Bogen als C. Müller, und warum hat D. Müller keine Striche, sondern Punkte über das „ü“ gesetzt? Schauspielern und Bürgern, die in den vergangenen Tagen wieder voreilig gemotzt hatten, sei gesagt: Die Einsichtnahme in die Unterschriftenlisten ist eine echte Sisyphos-Arbeit (Erklärung für den Magistrat und den künftigen Intendanten: Sisyphos ist eine Figur der griechischen Mythologie und hat weder in der Sissi-Trilogie mitgespielt geschweige denn sich als neuer Kumpel von Bussi Bär beworben).
Neben aller Intendanten-Querelen wird in Bad Hersfeld auch noch ernsthafte Politik betrieben. Wie Thomas Fehling heute mitteilte, wird die neue Stromtrasse „SuedLink“ mitten durch die Lullusstadt und quer durch die Stiftsruine verlaufen. Entgegen einer früheren breiten Ablehnung soll sich jetzt völlig überraschend eine überwältigende Mehrheit der Bürger für den Deal mit dem Netzbetreiber Tennet stark machen. Als Beweis präsentierte der Magistrat einen riesigen Papierberg – mit mehr als 10.000 Unterschriften und frischem Tipp-Ex auf dem Deckblatt… (Jochen Wieloch)
HINTERGRUND: „Wielochs wirre Welt" erscheint heute am 39. Freitag in Folge bei OSTHESSEN|NEWS. Jochen Wieloch (38) blickt dabei pointiert, humorvoll und teilweise mit einer gehörigen Portion Ironie auf die Ereignisse, die die Menschen in der Region und im Land bewegen. Der Petersberger kennt sich als selbstständiger Redakteur in den Medien Print, TV und Internet bestens aus, ist Buchautor und als Spezialist für Unterhaltungselektronik gefragter Autor für zahlreiche Verlage, Magazine und Fachzeitschriften. Außerdem berät und betreut der 38-Jährige Unternehmen in allen Fragen der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Neben dem ZDF, 3sat und dem Bayerischen Rundfunk arbeitete Jochen Wieloch unter anderem auch für die Motor Presse in Stuttgart und auto-tv in München. Für osthessen-tv.de stellt der Germanist neuerdings regelmäßig automobile Neuheiten in Filmbeiträgen vor.+++