Zug um Zug mit den Besten der Welt: Schach-Talent Wilhelm Schimming (8)
06.01.25 - Das gerade abgelaufene Jahr 2024 war für Wilhelm Schimming besonders aufregend: Der mittlerweile achtjährige Schüler aus Willingshain am Fuße des Eisenbergs zählt zu den besten Schachspielern seiner Altersklasse in Deutschland.
Der amtierender Hessenmeister erreichte die Qualifikationsnormen für seinen ersten internationalen Auftritt im deutschen Trikot bei der Deutschen Meisterschaft, einem Seniorenturnier und den hessischen U12 Mannschaftsmeisterschaften. Somit führte Wilhelm die sportliche Reise im vergangenen November zur Weltmeisterschaft der U8 nach Montesilvano an die Adria-Küste Italiens. Was ein Erlebnis. Erstmals sich mit den Talenten aus aller Welt messen zu können - Wilhelm hat sich prächtig präsentiert.
Zusammen mit seinem Vater Jürgen reiste er mit der deutschen Mannschaft zur WM. Elf Spieltage forderten die volle Konzentration. Selbst am Ruhetag haben die jungen Talente einen Wettkampf absolviert. Das sogenannte Problemschach - eine Stunde Wettrechnen. Hier belegte Wilhelm als zweitbester der deutschen U8-Mannschaft den starken 16. Platz. Woran erinnert er sich besonders gerne? "Als ich die erste Partie gewonnen habe", sagt der junge Schachspieler. Darüber hinaus sind es die Freundschaften! Auch wenn Schach natürlich ein Individualsport ist: Gerade während der WM entstanden diese zu den anderen Kindern aus dem deutschen Team und den Vertretern der anderen Nationen - etwa aus Brasilien, Spanien und England berichtet der junge Willingshainer nicht ohne Stolz.
Und wie war das mit der Verständigung? "Wir haben uns schon verstanden", antwortet Wilhelm mit einem Lächeln. Vater Jürgen beschreibt den intensiven Tagesablauf und wie gerade andere Nationen ihren schachlichen Nachwuchs fördern. Rund 700 Kinder in sechs Turnierklassen waren bei der Weltmeisterschaft dabei. Die Sicherheitsvorkehrungen waren hoch. Jedes Kind, jeder Betreuer musste durch eine Sicherheitsschleuse. Die Kinder waren im Wettkampfbereich unter sich, Eltern mussten draußen bleiben, auch vor den Runden. Die Schiedsrichter fungierten als Ansprechpartner. "Ein Kind hat mir etwas auf griechisch gesagt, das habe ich nicht verstanden. Da habe ich einen Schiedsrichter gefragt, dieser konnte Deutsch", erzählt Wilhelm. Seine Bilanz nach der WM: "Am Ende ausgeglichen: 4 Siege, 3 Remis und 4 Niederlagen! Ein riesiger Erfolg für mich", schreibt er auf seinem Instagram-Kanal (wilhelm_chessmylife), der ihn auch in Zukunft schachlich begleiten wird. "Schachfluencer” ist schließlich einer seiner Karriereträume.
Online-Besprechung mit dem Trainer
Vor den jeweiligen Partien hat sich Wilhelm intensiv vorbereitet. Am Vorabend erfuhren die Kinder ihre Kontrahenten der nächsten Runde, Dann standen von 21:30 Uhr bis spätestens 23 Uhr für den jungen Willingshainer die Onlinebesprechungen mit seinem Trainer IM Dr. Florian Grafl an. Dieser hatte sich die Abende frei gehalten, um Wilhelm Partie für Partie auf die Gegner vorzubereiten. Auf diesem Niveau absolut notwendig, um mit Spielern der Weltspitze mithalten zu können. Vormittags wurden dann die gemeinsam erarbeiteten kritischen Variantenbäume einstudiert. Vieles kann man am Brett noch rechnen, einzelne Abspiele muss man aber genau im Kopf haben, da die erforderlichen Zugfolgen nicht intuitiv sind und Zeit am Schachbrett eine harte Währung ist.Das Level an Professionalität auf solch einem Turnier ist beeindruckend und mit den in Deutschland bekannten Standards nicht vergleichbar, berichtet Papa Jürgen. Beispiel Schule: Während die deutschen Kinder (einschließlich Wilhelm) vormittags noch schnell Hausaufgaben und Schulstoff erarbeiten, sind die Kinder anderer Nationen oft komplett vom Unterricht befreit. Zum Teil nicht nur für das Turnier selbst sondern über Wochen und zum Teil Monate im Vorfeld. Schach ist in vielen Ländern eine echte Karriereoption und wird deshalb bereits im Grundschulalter intensiv gefördert und z.T. über die schulische Ausbildung gestellt. So hat bspw. der neue indische Schachweltmeister Dommaraju Gukesh für seine Schachkarriere seit dem 11. Lebensjahr keinen Schulunterricht mehr besucht. Nicht nachahmenswert, aber keinesfalls ein Einzelfall. Die Förderung des Schachsports hat insbesondere im asiatischen Kulturraum ein anderes Ansehen, einen höheren gesellschaftlichen Stellenwert und wird verbandsseitig mit größerer finanzieller Unterstützung versehen. Vollkommen andere Voraussetzungen als das im vom Fussball dominierten Deutschland der Fall ist.
Um den Erfolg geht es Wilhelm aber auch gar nicht. Für ihn steht bei allem sportlichen Ehrgeiz vor allem eines im Vordergrund: Der Spaß! Und den hat er nach wie vor. "Wir hinterfragen das immer wieder", sagt sein Vater. Den Trainingsplan richtet Wilhelm nach seinen Interessen aus, nicht nach dem, was für den nächsten Erfolg "erforderlich” wäre. Interesse und Neugier sollten der Antrieb sein, der Rest komme von allein. Vielleicht nicht ganz so schnell, dafür aber nachhaltig.
Was ihnen zusätzlich hilft: Wilhelms Schule steht dahinter. "Die Grundschule Aulatal hat uns ganz wesentlich unterstützt, die richtigen Rahmenbedingungen bieten zu können. Viele Vorbereitungsturniere und auch die Weltmeisterschaft selbst liegen zumindest teilweise in der Schulzeit. Das erfordert ein gutes Zusammenspiel und Vertrauensverhältnis zwischen Schule, Schüler und Elternhaus.", sagt Jürgen Schimming. "Gute bzw. sehr gute schulische Leistungen seien hierfür eine Voraussetzung.” Nicht immer ganz so einfach, denn mittlerweile ist Wilhelm in der dritten Klasse, nachdem er die erste Klasse schon nach kurzer Zeit überspringen konnte.
Fußball mit den Kumpels als Ausgleich
Während der WM und den ganzen Spielvorbereitungen hat er zwischendurch auch die Schulaufgaben erledigt, zum Beispiel während den Autofahrten. Als Ausgleich zum Schach spielt Wilhelm am liebsten mit seinen Kumpels Fußball beim JFV Aulatal. Schach und Fußball mal zu verknüpfen - das wäre eine coole Idee, sagt Wilhelm. Schach spielt er in der ersten Männermannschaft beim SK Turm Bad Hersfeld im Landesliga-Team. Zudem sei das Schachspielen in Schulen in Osthessen sehr verbreitet. Beispielsweise hat Klaus Bechtel als Schachlehrer der Wilhelm-Neuhaus-Schule in Bad Hersfeld Wilhelm und seinen Eltern bei den ersten schachlichen Gehversuchen zur Seite gestanden.Natürlich bringt der Schachsport auch in der Entwicklung der jungen Leute viel. Besonders gefragt ist die Visualisierungsfähigkeit. Aber auch der Faktor Zeit. "Viele Kinder tun sich damit schwer. Beim Schach lernen sie, mit der Uhr umzugehen", sagt Jürgen Schimming. Eine Partie bietet jedem Spieler in der Regel 100 bis 120 Minuten für die ersten 40 Züge. Das klingt nach sehr viel, kann aber in komplizierten Situationen sehr wenig sein. Da ist die Zeiteinteilung wichtig und darf kein abstrakter
Begriff mehr sein. Und dabei spielt stets eine Überlegung die entscheidende Rolle: "Was will mein Gegner?". "Es gibt so viele Möglichkeiten und wenn man nur eine übersieht, kann das im Zweifel vier oder fünf Stunden Konzentration zunichte machen.", sagt Schimming. Deshalb brauche man auch mit wenig Zeit auf der Uhr Ruhe und sollte sich immer hinterfragen, ob es "richtig ist, was der erste Impuls sagt?" Sich selbst zu hinterfragen, sei eine wichtige Eigenschaft. Nach den eindrucksvollen Erlebnissen in Italien hieß es für Wilhelm in der vergangenen Wochen, erstmal "runterzufahren". Und trotzdem trainiert er aktuell etwa zehn Stunden pro Woche. Dabei steht die Stappen-Methode und das Taktiktraining im Fokus.
In diesem Jahr rückt er in die nächste Altersklasse der unter zehnjährigen Kinder auf. Dort ist er dann einer der jüngsten Spieler, aber immer mit einem klaren Ziel vor Augen. Für die Hessenmeisterschaften ist er bereits qualifiziert. Dort möchte sich der aufgeweckte Kerl aus dem Kirchheimer Ortsteil für die Deutschen Meisterschaften qualifizieren. Und wer weiß, vielleicht geht es ja auch wieder zu einer Weltmeisterschaft – 2025 liegt der Austragungsort in den Vereinigten Staaten: Orlando.
Die WM beginnt einen Tag nach der Einschulung von Wilhelms Bruder Gregor. Er hat das Schachspielen auch schon für sich entdeckt. Wie sie diesen Zug dann lösen würden? Darüber machen sie sich erst Gedanken, wenn sich Wilhelm tatsächlich erneut qualifiziert. Es sei eher unwahrscheinlich, aber eben auch nicht unmöglich. Eine aufregende Zeit am Fuße des 636 Meter hohen Eisenbergs, der höchsten Erhebung im Landkreis Hersfeld-Rotenburg - irgendwie auch Sinnbild für die Entwicklung des jungen Mannes. Wilhelm genießt das Spiel auf seinem Schachbrett aus Holz. Zug für Zug. (Hans-Hubertus Braune) +++