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Helen SCHNEIDER swingt im Ghetto - Vorfreude auf die Festspiele
15.01.15 - Heinz Jakob Schumann, Jahrgang 1924, Gitarrist und KZ-Überlebender, entschloss sich nach 40-jährigem Schweigen doch noch aus seinem Leben zu erzählen: 1997 erschien seine Autobiografie „Der Ghetto Swinger – Eine Jazzlegende erzählt“. Die liegt der gleichnamigen Bühnenfassung aus der Feder von Kai Ivo Baulitz zugrunde, die an den Hamburger Kammerspielen 2012 uraufgeführt wurde. Am Mittwoch gastierte das Hamburger Kammerspiel mit der von Gil Mehmert inszenierten Revue „Der Ghetto Swinger“ im Rahmen der städtischen Abo-Theaterveranstaltungen in der ausverkauften Bad Hersfelder Stadthalle.
Eine ganz besondere Vorstellung für Hauptdarstellerin Helen Schneider, denn es war ihr 100ster Auftritt in dieser Inszenierung. Helen Schneider, US-Gesangslegende, Schauspielerin, Jazz-Lady und Musicalstar schlüpft gleich in mehrere Rollen: Erzählerin, Mutter, Rosa, Großmutter und auch Chérie, eben jene französische Freundin Schumanns, die seinen Vornamen nicht fehlerfrei über die Lippen brachte und ihm deswegen seinen Spitznamen bescherte: Ihr „Einz“ nämlich macht Coco seinem eigenen Bekunden nach „ganz nervös“.
Die Geschichte um Coco Schumann nimmt das Publikum mit auf eine Reise in das Berlin der 30er Jahre. In den Kneipen wird Swing und Jazz gespielt und der junge sogenannte Halbjude Coco ist fasziniert von der Musik. Schon früh gerät er in die Szene der verbotenen „Swing-Kids“. Nicht nur seine Herkunft macht ihm das Leben schwer, sondern auch die Musik, die er spielt. „Nigger-Musik“ war den Nazis ein Dorn im Ohr. Trotz seiner liebevollen Naivität bemerkt er das Unmenschliche, das ihn umgibt. Doch er versteht – und darauf weist Helen Schneider als Erzählerin ein ums andere Mal hin – nicht das Warum. Seine Einstellung zum Leben, zur Kunst ist eine vollkommen andere: „Wer den Swing in sich hat, kann nicht mehr im Gleichschritt marschieren.“
Das Publikum wird Zeuge des größten Wunders der persönlichen Lebensgeschichte von Coco, dem in existenziell bedrohender Situation die Musik mehr als einmal das Leben rettet. Immer wartet eine Gitarre auf ihn - ob in Theresienstadt, wo er als Mitglied der „Ghetto-Swingers“ um sein Leben spielt, später im KZ Auschwitz-Birkenau, wo er zur Unterhaltung der Lagerältesten und SS sein ganzes Können einsetzt oder in Dachau, wo er mit letzter Kraft den Abgesang auf das Regime begleitet. Die Musik gibt ihm die Chance, das Konzentrationslager zu überleben, denn Orchestermitglieder genossen eine relative Schonbehandlung.
Mit einem hochmusikalischen, schauspielerisch überzeugenden siebenköpfigen Ensemble um Helen Schneider und Konstantin Moreth als Coco begibt sich Gil Mehmert auf eine musikalische, emotionale und historische Reise durch das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte, das in knappen Szenen, dabei ungeheuer stimmungsintensiv erzählt wird. Helen Schneider ist während der gesamten rund zweistündigen Vorstellung auf der Bühne präsent, als Sängerin brillant und als Erzählerin glaubwürdig. Ihre schier unglaubliche Bühnenpräsenz macht den Weltstar zur Idealbesetzung der verschiedenen Rollen in dieser erzählten Biografie, die berührt.
Für das Bad Hersfelder Publikum trotzdem gewöhnungsbedürftig, denn „Der Ghetto Swinger“ mit seiner musikalisch-theatralen Mischform hebt sich ab. Der frenetische, minutenlange Schlussapplaus lässt allerdings darauf schließen, dass Schumanns bewegtes Leben nicht kalt ließ. Ein Leben, über das Schumann einmal gesagt hat: „Wild und bunt lief es, manchmal zu lang und immer zu kurz, das Leben hat sich unglaublich böse und entsetzlich schön gezeigt. Nur eines war und ist es mit Sicherheit nicht: schrecklich.“
Eine Vielzahl der Besucher genoss das Wiedersehen mit Helen Schneider, die bei den Bad Hersfelder Festspielen in den Musicals „Evita“ und „Sunset Boulevard“ brillierte. Im kommenden Sommer steht der Weltstar im Musical „Cabaret“ (Premiere 19.06.2015, 21.00 Uhr) erneut auf der Bühne der Stiftsruine. (Gudrun Schmidl) +++