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REGION WIELOCHS WIRRE WELT (78)

Bahnstreik: Was die Bananenrepublik Deutschland von Kiribati lernen kann

08.05.15 - Was haben Deutschland und Kiribati gemeinsam? Weder in der Bundesrepublik noch im pazifischen Inselstaat fahren Züge. Kurios: In der Republik Kiribati verkehren Züge sogar noch seltener als in der Bananenrepublik Germany. Nämlich nie. Der Kleinstaat mit einer Ausdehnung von stolzen 4.567 Kilometern von der östlichsten Insel im Caroline-Atoll zur westlichsten Insel Banaba gönnt sich den Luxus und verzichtet komplett auf das zuverlässigste Verkehrsmittel der Welt. Das Verrückte: Die Menschen sind trotzdem glücklich. Oder haben Sie schon mal an der Tankstelle oder beim Bäcker einen deprimierten Kiribati getroffen?

Nicht nur das unterscheidet das Land, in dem Männer im Schnitt satte 57 Jahre alt werden und Tuberkulose populärer ist als hierzulande ein Schnupfen, von Deutschland: Das Wort „Streik“ existiert in der Sprache der Kiribati gar nicht. Die insgesamt 14 ausgebildeten Erzieher sind froh, wenn Kinder nicht schon bei der Geburt sterben, und die vier Piloten jubeln vor Dankbarkeit, wenn alle paar Monate mal wieder Geld da ist, um die verrosteten drei Maschinen der Fluglinie Air Kiribati aufzutanken.

In der Hauptstadt South Tarawa ist es schwierig, den unsensiblen Einheimischen die gegenwärtige Gefühlslage von Millionen Deutschen zu erklären: „Ihr ärgert Euch darüber, dass etwas nicht fährt, über das Ihr Euch sonst das ganze Jahr ärgert, wenn es fährt?“, reagiert Präsident Anote Tong stellvertretend für die anderen 102.350 Kiribati verwundert. „Im Schnitt kommt jeder deutsche Fernzug 3,1 Minuten zu spät“, liefere ich ihm ein schlagkräftiges Argument, warum die Deutschen auch dann allen Grund zum Nörgeln haben, wenn die Bahn mal nicht streikt. Tong nickt verständnisvoll. Mit Verspätungen kennen sich auch die Kiribati ein klein wenig aus, allerdings nicht so gut wie das Dritte-Welt-Land Deutschland: „Jeder Bus hat bei uns im Schnitt vier Tage und 17 Stunden Verspätung.“ Und dann erzählt er, dass Kiribatis Kinder morgens ohne Frühstück bei sengender Hitze teilweise bis zu 50 Kilometer in die Schule schwimmen. Doch dieses Gejammer lasse ich nicht gelten: „Unsere Kinder sind aufgrund des Bahnstreiks morgens bis zu 800 Meter mit dem Fahrrad unterwegs, und das trotz G8 und iPad-Klasse bei 13 Grad Celsius“, platzt mir der Kragen.

Einmal in Rage poltere ich weiter. „In was für einem beschissenen Land leben wir eigentlich? Junge Lokführer müssen hier wöchentlich bis zu 39 Stunden rackern für läppische 2.488 Euro ohne Zulagen.“ – Kiribatis Präsident schluckt: „Und was machen die Lokführer die restliche Woche?“, will er wissen und berichtet stolz, dass in seinem Inselstaat die Beschäftigungsgesetze modifiziert wurden. Mehr als 60 Wochenstunden sind verboten – zumindest für die Fünf- bis Siebenjährigen.

Anote Tong verabschiedet sich glücklich und gibt mir den Wahlspruch der Kiribati mit auf den Weg: „te mauri, te raoi ao te tabomoa“. Übersetzt heißt das „Gesundheit, Frieden und Wohlstand“. Kein Wunder, dass der Kerl so gut gelaunt ist. Er lebt auf der Sonnenseite der Erdkugel, in einer Republik mit Perspektive, und nicht in diesem Entwicklungsland Deutschland. Übrigens: Auf Grund des Klimawandels und des Anstiegs des Meeresspiegels wird Kiribati zwischen 2060 und 2070 im Meer versunken sein. (JOCHEN WIELOCH)

Fotos/Design: Nicole Wagner

HINTERGRUND: „Wielochs wirre Welt" erscheint bei OSTHESSEN|NEWS heute am 78. Freitag in Folge. Jochen Wieloch (38) blickt dabei pointiert, humorvoll und teilweise mit einer gehörigen Portion Ironie auf die Ereignisse, die die Menschen in der Region und im Land bewegen. Der Petersberger kennt sich als selbstständiger Redakteur in den Medien Print, TV und Internet bestens aus, ist Buchautor und als Spezialist für Unterhaltungselektronik gefragter Autor für zahlreiche Verlage, Magazine und Fachzeitschriften. Außerdem berät und betreut der 38-Jährige Unternehmen in allen Fragen der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Neben dem ZDF, 3sat und dem Bayerischen Rundfunk arbeitete Jochen Wieloch unter anderem auch für die Motor Presse in Stuttgart und auto-tv in München. Für osthessen-tv.de stellt der Germanist neuerdings regelmäßig automobile Neuheiten in Filmbeiträgen vor.+++


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