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„Halt, stehen bleiben!“ – Dramatische Tage im DDR-Knast: Grenzschützer Gunther BOHLE
27.08.14 - Vor 25 Jahren fiel die Mauer - die Grenzen zwischen Ost und West sind Geschichte, Deutschland wiedervereint. Die junge Generation kennt heute den ehemaligen Zaun zwischen - beispielsweise Rasdorf und Geisa - nur noch aus den Geschichtsbüchern oder den Gedenkstätten wie beispielsweise Point Alpha (Landkreis Fulda) oder Schifflersgrund (Werra-Meißner-Kreis).
OSTHESSEN|NEWS erinnert in den kommenden Wochen und Monaten in zahlreichen Beiträgen an den Fall der Mauer. Zeitzeugen erzählen ihre ganz privaten Erlebnisse. Wie war das Leben und Arbeiten an der innerdeutschen Grenze - im Zonenrandgebiet? Menschen aus Osthessen und Thüringen berichten von den Tagen als die Grenze endlich geöffnet wurde.
In unserem ersten Teil schildert uns Gunther Bohle aus Niederaula wie er als junger Grenzschützer plötzlich zum Spielball des DDR-Regimes wurde - aufgezeichnet von unserer Mitarbeiterin Stefanie Harth:
Vor 38 Jahren überschritt der Bundesgrenzschützer Gunther Bohle unwissentlich die innerdeutsche Grenze. Für das DDR-Regime damals ein gefundenes „Fressen“. Es startete eine regelrechte Propaganda-Maschinerie. Sogar das DDR-Fernsehen – genauer gesagt, die Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“ – schlachtete den Grenzübertritt aus, indem es ein Interview mit dem Niederaulaer ausstrahlte.
Dienstag, 15. Juni 1976, kurz vor 9 Uhr: Der 19-jährige Grenztruppjäger, der gerade seine Grundausbildung absolviert hat, befindet sich mit seinem Streifenführer Wolf-Dieter Frese auf Patrouillengang entlang des Grenzabschnitts der BGS-Abteilung Eschwege. Aus den Wäldern des Dachsberges – hier verläuft die Grenze zwischen Hessen und Thüringen nicht kerzengerade, sondern springt quasi im Dreieck – ertönen Geräusche. „Wir führten diese auf Forstarbeiten zurück und wollten einfach nur nach dem Rechten sehen“, erinnert sich der Polizeihauptkommissar, der heute bei der Eschweger Bundespolizei als Verkehrssicherheitstrainer und Fahrlehrer tätig ist.
Der junge Grenzschützer läuft seinem Vorgesetzten hinterher. Anstatt einen Bogen einzuschlagen, nehmen sie den direkten Weg – und begeben sich somit auf DDR-Areal. „Ich kannte mich in diesem Gefilde gar nicht aus – es war erst meine dritte Streife“, blickt Gunther Bohle auf den dramatischsten Moment seiner BGS-Laufbahn zurück. Plötzlich vernehmen die BGSler ein Knacken – wie er heute weiß, ist dieses auf das Durchladen eines Gewehres zurückzuführen. Ein Trupp DDR-Grenzer tritt hinter den Bäumen hervor. „Halt, stehen bleiben oder wir schießen“, ruft einer der Soldaten in die Stille.
„Ich wollte damals einfach davonlaufen, aber mein Streifenführer raunte mir zu, dass ich mich nicht bewegen solle“, erzählt der Polizeihauptkommissar. „Heute denke ich, dass die DDR-Grenzer auf uns geschossen hätten, wenn wir Reißaus genommen hätten.“ Nach erfolgter Entwaffnung werden die beiden „Grenzverletzer“ hinter den Grenzzaun gebracht und per Transporter, mit verbundenen Augen, versteht sich, nach Geismar gekarrt. Wenig später werden sie voneinander getrennt und nach Mühlhausen chauffiert. Dort übernehmen Mitarbeiter der Stasi die Verhöre. „Im Verlauf dieser pausenlosen Vernehmungen verlor ich jegliches Zeitgefühl“, erläutert Gunther Bohle. „Ich sah mich damals bereits hinter Gittern und erörterte denen, nachdem sie mich weich gekocht hatten, alles, was sie hören wollten.“ Bohle, der aufgrund von Übermüdung nicht mehr dazu in der Lage ist, Zusammenhänge zu erkennen, unterzeichnet ein Vernehmungsprotokoll und gesteht, mit Vorsatz in DDR-Staatsgebiet eingedrungen zu sein.
Auf westdeutscher Seite – selbstverständlich vermisst man die beiden Grenzschützer – laufen die Ermittlungen und Verhandlungen mit der DDR auf Hochtouren. „Das ging hinauf bis in die höchsten Regierungskreise. Selbst der der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt schaltete sich höchstpersönlich ein“, unterstreicht der Niederaulaer. Währenddessen schlachtet das SED-Regime den Vorfall bis ins kleinste Detail aus. Auf der Titelseite der Zeitung „Neues Deutschland“ prangt bereits am Mittwoch die Meldung: „Die beiden Angehörigen des BRD-Bundesgrenzschutzes, die am Dienstag in provokatorischer Weise im Raum Kella in das Territorium der DDR eingedrungen und festgenommen worden waren, haben die vorsätzliche Grenzverletzung öffentlich gestanden…“ Hierbei bezieht sich die Presse auf ein Interview, das Gunther Bohle dem DDR-Fernsehen in Erfurt geben musste. Sichtlich eingeschüchtert gibt er vor laufender Kamera zu, die Grenze vorsätzlich überquert zu haben.
Nach drei Tagen der Angst, des Bangens und des Blickens in eine ungewisse Zukunft findet die Leidenszeit von Gunther Bohle und Wolf-Dieter Frese am Freitag, 18. Juni, ein Ende. Über den kleinen Grenzverkehr gelangen die beiden ins niedersächsische Duderstadt. Von dort aus geht es direkt nach Kassel zu einer Pressekonferenz. „Auf dieser habe ich mich zu den Vorfällen nicht geäußert“, betont Bohle. Nachdem die Ermittlungen seitens der BRD abgeschlossen sind, verrichtet er wieder seinen Grenzdienst – anfangs mit einem „komischen Gefühl“ im Bauch. Ab 1978 fährt der Bundesgrenzschützer Grenzstreife als Streifenführer; verrichtet seinen Dienst beim BGS/bei der Bundespolizei in Bad Hersfeld, Hünfeld und Eschwege.
„Im Nachhinein war mir bewusst, dass sich die DDR-Führung an die Vereinbarung, die zwischen der DDR und der BRD bestand, gehalten hat, indem sie uns nach drei Tagen auf freien Fuß setzte.“ Zum Zeitpunkt des Festhaltens sei er sich darüber nicht im Klaren gewesen. Jahre nach der Wende stellt der Bundespolizeibeamte einen Antrag, um Einsicht in seine Stasiakte zu erhalten. Gunther Bohle, der auf alles gefasst ist, atmet auf: In den Schriftstücken ist nur seine „Grenzverletzung“ akribisch dargestellt – darüber hinaus findet sich über ihn kein Eintrag. (Stefanie Harth) +++