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Wie Familie VIOL in Ludwigsau eine neue Heimat fand
07.09.14 - Den siebten Geburtstag ihres Sohnes Daniel werden Andreas und Mona Viol, die seit 24 Jahren im Ludwigsauer Ortsteil Reilos wohnen, niemals in ihrem Leben vergessen. Wir schreiben den 11. November 1989. Zwei Tage zuvor fiel die Berliner Mauer. Im thüringischen Kindelbrück hat sich die sensationelle Nachricht herumgesprochen.
Gemeinsam mit ihren Verwandten feiert Familie Viol Daniels Ehrentag. „Doch eigentlich saßen wir wie auf heißen Kohlen“, erzählt Andreas Viol. „Wir wollten an diesem Samstag noch unbedingt in den ‚Westen‘ durchstarten, um unseren Bekannten in Reilos einen Überraschungsbesuch abzustatten. Der Kontakt bestand, weil es Monas Urgroßmutter einst nach Reilos verschlagen hatte.“ Gegen 21.30 Uhr – die Geburtstagsparty war „endlich“ beendet – steigen die Thüringer in ihren Wartburg und fahren in Richtung Herleshausen.
„Wir hatten uns tags zuvor extra die für diese ‚Ausreise‘ notwendigen Bescheinigungen in Sömmerda besorgt“, resümiert der zweifache Familienvater. „Da wir damit rechneten, vor dem Grenzübergang zwischen Wartha und Herleshausen stundenlang im Stau zu stehen, begaben wir uns noch am Abend auf die große Reise, um pünktlich am Sonntagmorgen in Reilos anzugelangen.“ Doch die Fahrt nach Hessen verläuft reibungslos. Um 23.30 Uhr treffen die Viols in Bad Hersfeld ein.
„Wir wussten nicht, wo Reilos genau lag – nur das Stichwort ‚Bad Hersfeld‘ war immer mal wieder gefallen. Das war logischerweise auf keiner unserer ‚Ostkarten‘ verzeichnet – wie auch die ganze Bundesrepublik für uns nur ein weißer Fleck in der Landschaft darstellte. Deshalb dachten wir: Orientieren wir uns erst einmal an Bad Hersfeld, um dort den Weg nach Reilos zu erfragen“, erläutert Mona Viol, die zu diesem Zeitpunkt hochschwanger war.
In der Lullusstadt angekommen, schlendert die Familie über den Lingplatz und durch die Fußgängerzone, um einen Blick in die Schaufenster der Geschäfte zu erhaschen. Plötzlich stehen die Thüringer einem Mann von der Wach- und Schließgesellschaft gegenüber. „Der hat auf den ersten Blick erkannt, dass wir aus dem ‚Osten‘ kommen“, lacht Andreas Viol, der zwischen 1980 und 1983 erste Grenzerfahrungen bei den Grenztruppen der DDR in Treffurt sammelte, wo er auch seine Ehefrau Mona kennenlernte.
„Er gab uns den Tipp, dass wir im Finanzamt übernachten können.“ Weil das junge Ehepaar seine Bekannten nicht zu so später Stunde überfallen will und seinem kleinen Sohn ein wenig Schlaf gönnen möchte, nimmt es diesen Ratschlag an. Bei dieser Unterhaltung fällt auch das Stichwort „Begrüßungsgeld“. „Begrüßungsgeld? Das brauche ich nicht“, denkt sich der 28-Jährige, der genügend Ostmark eingepackt hatte, um sich diese umtauschen zu lassen.
Sonntagmorgen gegen 6 Uhr fährt die Familie – ein DRK-Helfer erklärte ihnen zuvor den Weg – auf dem Hof des Reiloser Anwesens vor, fest davon überzeugt, dass ihre Freunde aufgrund der Landwirtschaft so früh auf den Beinen seien. Prompt klingelt der Besuch seine Gastgeber aus dem Bett. „Sie hatten mit uns gerechnet und bis nachts um 2 Uhr auf uns gewartet. Den Zwischenstopp in Bad Hersfeld hätten wir uns sparen können“, berichtet Mona Viol. Nach einem herzlichen Empfang und einem stärkenden Frühstück bricht der Tross wieder in die Festspielstadt auf. Schließlich hat an diesem Sonntag der Einzelhandel seine Pforten geöffnet.
Ihr Aha-Erlebnis haben die Kindelbrücker in einem großen Bad Hersfelder Lebensmittelmarkt. „Unser Einkaufswagen war voll“, unterstreichen die beiden. Während Monas Objekt der Begierde „Mars-Riegel“ darstellen, greift Andreas beherzt nach „Milka-Schokolade“ – beides ist ihnen aus der Werbung des Westfernsehens ein Begriff. Zudem wandern allerlei Kiwis und Bananen – hauptsächlich Mitbringsel für ihre thüringischen Verwandten und Freunde – in den Wagen. „Mein Vater weinte, als er dieses Überangebot erblickte, und verließ fluchtartig das Geschäft“, erklärt Andreas Viol. „Er war ergriffen und sagte zu mir: Junge, dass ich so etwas in meinem Alter noch einmal erleben darf.“
Andreas Viol ist bereits zwei Jahre vor dem Fall der Mauer fest davon überzeugt, dass sich in absehbarer Zukunft die Grenzen öffnen würden. „Das System war erkrankt, ging langsam aber sicher in die Brüche“, meint er. Nach der Grenzöffnung bietet sich der jungen Familie in ihrer Heimat keine berufliche Perspektive mehr. Obwohl sie in Kindelbrück gerade ein Haus gebaut hatten, suchen sie ihr Glück im Landkreis Hersfeld-Rotenburg. Beim Kunstfaserhersteller Hoechst findet der Thüringer zwei Wochen nach dem Umzug nach Reilos Beschäftigung. Für seine Ehefrau ist der Neubeginn in Waldhessen anfangs schwer gewesen: „Während Andreas seiner Arbeit nachging, war ich mit unserem Sohn und unserer gerade geborenen Tochter allein Zuhause.“ Doch verfliegt dieses Gefühl des Alleinseins – dank netter Nachbarn – mit der Zeit.
„Ich will nicht mehr zurück nach Kindelbrück“, betont Mona Viol. „Ich fahre gerne in unsere alte Heimat, aber auch gerne wieder zurück nach Hause.“ Familie Viol, die seit dem 8. März 1990 in Reilos lebt, ist längst in Hessen angekommen. Dennoch haben die Erlebnisse an die Zeit, in der deutsch-deutsche Geschichte geschrieben wurde, ihre Spuren hinterlassen. Immer, wenn im Fernsehen Bilder vom Mauerfall und der Wiedervereinigung ausgestrahlt werden, keimen alte Erinnerungen auf. Erinnerungen an eine Zeit, in der sich ein endlich vereintes Volk in Aufbruchsstimmung befand und in der Mona und Andreas Viol nicht mehr sehnsüchtig über die Grenze in Richtung „Westen“ schauen mussten, sondern über diese mit ihrem Wartburg fahren durften. (Stefanie Harth) +++
Im thüringischen Treffurt, wo Andreas Viol stationiert war, lernte er seine Ehefrau Mona kennen. ...