Schulstart in Osthessen: Plärrende Mütter und ein Sport-Attest

05.09.14 - Ab nächster Woche weht für viele Kinder in Osthessen ein anderer Wind: Dann starten die Kleinen ins Schulleben. Während der Nachwuchs mit der neuen Lebenssituation in der Regel keine Probleme hat, reagieren die Eltern sehr unterschiedlich auf die anstehende Schulkarriere. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf den Morgen der Einschulung. 

Fins Eltern gehören zu der Sorte Erziehungsbeauftragte, die zumindest in den ersten acht bis zehn Schuljahren nichts dem Zufall überlassen möchten. „Fin, could you give me the jam, please.“ Der Vierjährige darf heute zum ersten Mal die Grundschule besuchen, weil seine Eltern mit dem Niveau der bilingualen Kindergartengruppe nicht einverstanden waren. „Hier Mama, die Marmelade“, erfüllt der Kleine beim Frühstück den Wunsch seiner Mutter. „In English, please. Just in English“, zeigt sich diese ob der Antwort wenig erfreut. Nebenbei geht sie noch einmal ihre ganz persönliche Einschulungs-Checkliste durch, ausnahmsweise auf Deutsch. „15 Hefte A4, kariert, kleiner Rand, 15 Hefte A5, liniert, großer Rand, 20 Bleistifte Härte 2H, 20 Bleistifte Härte 6H, 20 Bleistifte Härte 2B, 20 Bleistifte Härte 3B, 20 Bleistifte Härte 8B, Füller für Lithografie, wissenschaftlicher Taschenrechner, Architekten-Zirkel, Cambridge English: Business Certificates…“

„Ist da“, antwortet der Vater jeweils nach einer Kontrolle und packt die Unterrichtsmaterialien in unterschiedliche Aktentaschen aus feinem Pferdeleder. Eine Stunde vor Schulbeginn bricht das Trio auf. „Your medical attest for your teacher. No sports and no chocolate“, überreicht die Mutter ihrem Sprössling ein dickes ärztliches Dossier. Eine Spedition ist noch damit beschäftigt, die Schultüte auf den Dachträgern des Jeeps zu montieren. Kurze Zeit später startet die 70 Meter lange Fahrt durch den Wendehammer zur Grundschule.

„Wie viel Super Plus für 1,599 Euro verbrauchen wir auf dieser Strecke bei einer Durchschnitts-geschwindigkeit von 29,7 km/h unter Berücksichtigung des erhöhten Luftwiderstands durch das Dachgepäck?“, will der Vater von Fin wissen. „In English, please. Just in English“, tobt die Mutter und straft ihren Gatten mit einem bösen Blick. Fin grübelt. „0,47?“ – „Is this an answer or a question?“, wird die Mutter sauer. Fin bleibt bei seiner Antwort. Der Vater ist zufrieden und will bereits zum Schulhof gehen. Doch seine Frau, studierte Kinderpsychologin, bleibt eiskalt sitzen. „Incorrect“, faucht sie den Kleinen an. Der gerät mächtig ins Schwitzen, grübelt, rechnet nach. Und kommt immer wieder auf 0,47. „Elvira, sei nicht so streng“, lenkt der Vater ein. „Je ne comprends pas allemand“ („Ich verstehe kein Deutsch“) tobt die 41-Jährige jetzt auf Französisch. „I will not tolerate inaccuracy“, brüllt sie so laut, dass alle Erstklässler nun wissen, dass Fins Mami keine Ungenauigkeit akzeptiert.

Als es dunkel wird, sitzen die drei noch immer im Auto. Der Vater erlöst seinen Sohn. „Du hast Liter vergessen. 0,47 Liter wäre richtig gewesen.“ Mit tränenerstickter Stimme antwortet Fin „In English, please. Just in English“.

Etwas entspannter verläuft der erste Schultag bei Emil. Leise tappst er um halb 9 ohne Strümpfe, Ranzen und Hefte aus dem Haus, um seine Eltern nicht zu wecken. Auf seinem T-Shirt, das sein Vater ihm geschenkt hat, steht „Wenn alles schläft und einer spricht, nennt man dieses Unterricht“. Anstatt einer Schul- hat der Siebenjährige eine Chipstüte unter dem Arm. Drei Stunden später verlässt Emil die Schule und kommt an einem schwarzen Geländewagen vorbei, in dem eine Mutter pausenlos ihren Sohn anplärrt. Um den weinenden Kollegen aufzuheitern, zeigt er zum nahen Fastfood-Restaurant und reibt sich den Bauch: „Happy Hour. All you can eat.“ Vibrierend vor Glück steigt die Psychologen-Mami aus und nimmt Emil in den Arm: „Noch einer, der bilingual erzogen wurde.“(Jochen Wieloch)

HINTERGRUND: „Wielochs wirre Welt" erscheint heute am 43. Freitag in Folge bei OSTHESSEN|NEWS. Jochen Wieloch (38) blickt dabei pointiert, humorvoll und teilweise mit einer gehörigen Portion Ironie auf die Ereignisse, die die Menschen in der Region und im Land bewegen. Der Petersberger kennt sich als selbstständiger Redakteur in den Medien Print, TV und Internet bestens aus, ist Buchautor und als Spezialist für Unterhaltungselektronik gefragter Autor für zahlreiche Verlage, Magazine und Fachzeitschriften. Außerdem berät und betreut der 38-Jährige Unternehmen in allen Fragen der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Neben dem ZDF, 3sat und dem Bayerischen Rundfunk arbeitete Jochen Wieloch unter anderem auch für die Motor Presse in Stuttgart und auto-tv in München. Für osthessen-tv.de stellt der Germanist neuerdings regelmäßig automobile Neuheiten in Filmbeiträgen vor. +++