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Die Familie Bensinger aus Chicago vor zwei Wochen bei ihrem Besuch in Fulda (von links): Mutter Elizabeth, Tochter Jennifer, Vater Ethan und Tochter Karen. - Fotos: Privat

FULDA/CHICAGO Deutsch-jüdisches Happy End

Chicagoer Anwalt reist extra nach Fulda – bloß wegen zwei Tischdecken

24.02.19 - Die aus Bad Salzschlirf (Landkreis Fulda) stammende Anja Listmann engagiert sich seit Jahrzehnten für die Aufarbeitung des Holocaust und die Versöhnung zwischen Deutschen und Juden im Fuldaer Land. Und Anja Listmann erzählt mir eine Geschichte, die so unglaublich ist, dass man sich beim Zuhören verwundert die Augen reibt:

Historisches Foto: Jacob Sichel mit Sohn Hugo vor dem Laden in der Karlstraße 42 ...

Erinnerungsstein mit dem Namen Hugo Sichel am Platz der ehemaligen Synagoge ...

Sie beginnt im Dezember 1894, als Hugo Sichel als Sohn des jüdischen Textilwarenhändlers Jacob Sichel in Fulda zur Welt kommt. Hugos Schwester Thekla erkennt die Zeichen der Zeit und wandert 1938 kurz vor der Reichspogromnacht nach Palästina aus. Hugo aber bleibt – auch wegen seines besten Freundes Paul Römhild, der ein Deutscher ist und fest zu Hugo hält, auch dann noch, als die Stimmung in der Nachbarschaft so langsam kippt und die jüdischen Mitbürger mehr und mehr angefeindet werden.

Paul Römhild heiratet und bestellt die komplette Aussteuer im Sichelschen Textilwarenladen, darunter auch zwei handgearbeitete blau-weiße Tischdecken. Bevor Paul Römhild 1958 stirbt, sagt er zu seiner Familie: „Haltet die Decken in Ehren als Andenken an meinen besten Freund.“ – Am 8. Dezember 1941 war Hugo Sichel nach Riga deportiert worden. Man hat nie wieder was von ihm gehört …

Zeitsprung: November 2018. 23 Nachkommen früherer Fuldaer Juden sind aus Israel, den USA und Brasilien angereist, um im Zollamt in der Lindenstraße, das auf dem Gelände des alten jüdischen Friedhofs steht, einen Gedenkraum für die dort Beerdigten einzusegnen – unter ihnen auch Ethan Bensinger aus Chicago. Bensinger ist der Enkel der 1938 nach Palästina ausgewanderten Thekla Sichel, und somit ist Ethan Bensinger der Großneffe von Hugo Sichel.

Hedi Schuhej, geborene Römhild, mit ihrer Schwester Gerda

Der spannende Moment, in dem Hedi Schuhej die Tischdecken aus dem Schrank holt. ...

Feinste Handarbeit

Auch Anja Listmann (Dritte von links) und OB Dr. Heiko Wingenfeld nahmen an der Übergabe ...

Fast 80 Jahre lagen die beiden handgearbeiteten blau-weißen Tischdecken unbenutzt im Schrank der Familie Römhild. Zuletzt bei Paul Römhilds Tochter Hedi Schuhej. Das wäre jetzt die Gelegenheit, sie endlich einem Nachkommen von Hugo Sichel zu übergeben. Doch bevor es dazu kommt, ist Ethan Bensinger auch schon wieder nach Chicago abgereist.

Nach fast achtzig Jahren im "Dornröschenschlaf" finden die beiden Tischdecken nun ...

Ethan Bensinger mit seinen Töchtern am Platz der ehemaligen Synagoge

„Ich habe mich dann an Anja Listmann gewandt, ob sie nicht irgendwie vermitteln könnte“, sagt Hedi Schuhej auf ON-Nachfrage. Anja Listmann kennt Ethan Bensinger von früheren Treffen gut und ruft sofort in Chicago an. „Ich bin fast umgefallen, als ich von den Tischdecken erfahren habe“, erklärt der 69-jährige Bensinger im transatlantischen Telefonat mit den OSTHESSEN|NEWS. "Ich habe mich dann auch gleich mit Hedi Schuhej in Verbindung gesetzt."

Was folgte, war eine Hau-Ruck-Aktion. „Wir haben irgendwie die Enkel untergebracht, und dann bin ich mit meiner Frau Elizabeth und den Töchtern Karen und Jennifer für vier Tage nach Deutschland geflogen, um die Tischdecken abzuholen.“ Das war jetzt vor zwei Wochen. Selbst Oberbürgermeister Dr. Heiko Wingenfeld ließ es sich nicht nehmen, diesem denkwürdigen Moment beizuwohnen.

Obwohl Ethan Bensinger als Anwalt eigentlich eher rational denkt, sei der Moment, als Hedi Schuhej die Decken aus dem Schrank holte, doch sehr emotional gewesen. „Ethan hat sie angesehen wie ein Weltwunder und immer wieder drüber gestreichelt“, sagt Hedi Schuhej. Was aber bringt jemanden dazu, über 7.000 Kilometer weit zu fliegen, bloß um zwei Tischdecken in Empfang zu nehmen? „Das ist doch klar“, sagt Ethan Bensinger. „Außer einem Foto von Hugo und seinem Vater vor dem Laden in der Karlstraße 42 sowie einem Dokument, das auflistet, wer was nach Hugos Deportation aus dessen Besitz in einer Auktion ersteigert hat, gibt es sonst nichts mehr von ihm. Für mich haben diese beiden Decken einen ganz besonderen Wert.“ (Matthias Witzel) +++


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