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Tschüss, altes Haus! Mit "Kerbersch Koarl" stirbt ein Stück Fuldaer Seele
10.10.20 - Es fühlt sich ein bisschen an wie der Abschied von einem guten, alten Freund. Denn wenn die Galeria Kaufhof Mitte Oktober schließt, stirbt auch ein Stück der Fuldaer Seele. Nicht etwa, weil die Galeria als solche den Bürgerinnen und Bürgern ans Herz gewachsen wäre. Sondern weil das Kaufhaus in der Tradition von Kerber stand, dem ersten Warentempel in der Barockstadt überhaupt. Bis zum Schluss nannten die Einheimischen das Kaufhaus "Kerbersch Koarl", benannt nach seinem Gründer, und so wird es auch in die Annalen der Stadt eingehen.
Auf der Spurensuche nach der Geschichte von Kerber hat sich OSTHESSEN|NEWS ins Stadtarchiv Fulda begeben, wo ein dickes Bündel mit Dokumenten, Presseartikeln, Werbeanzeigen und last, but not least der Sammlung von Fotograf Hubert Weber einen plastischen Einblick gewährt. Das erste Dokument stammt aus dem Jahr 1936. Darin beantragt der Gießener Unternehmer Karl Eduard Kerber (1917-2011) die Übernahme des Kaufhauses Elsbach in der Fuldaer Marktstraße 8 (dort, wo heute die "Nordsee" ist), nachdem dessen nichtarischer Besitzer sich im nationalsozialistischen Klima zur Geschäftsaufgabe gezwungen gesehen hatte.
Karl Kerbers Konzept, nach amerikanischem Vorbild ein Einheitspreisgeschäft zu etablieren, das Waren des täglichen Bedarfs in wenigen festen Preisstufen vorwiegend in Selbstbedienung anbot, funktionierte im Dritten Reich nur bedingt; die Waren wurden knapper, das Geld wertloser. Doch schon bald nach Kriegsende und besonders in der Wirtschaftswunderzeit in den 1950er Jahren mauserte sich Kerber zum absoluten Kassenschlager nicht nur für die Fuldaer, sondern auch fürs gesamte Umland. Glaubt man den Beiträgen im Stadtarchiv, konnten die Rhöner sogar ein Zugticket lösen, das sie speziell für den Einkauf bei Kerber nach Fulda und wieder zurückbrachte.
Zu Schlussverkaufszeiten wurde das Geschäft regelrecht gestürmt und musste sogar einmal wegen eines durchbrochenen Fußbodens im oberen Stockwerk vorübergehend geschlossen werden. Schließlich wurde das liebgewonnene Gebäude zu klein und Karl Kerber suchte nach einer Alternative. Im Gespräch war zunächst der Borgiasplatz, wo dann aber 1964 mit dem Kaufhaus Karstadt der größte Konkurrent von Kerber eröffnet wurde (es gab mit dem Sieling in der Mittelstraße noch ein kleineres drittes). Fündig wurde man schließlich in der Rabanusstraße an der Stelle des ehemaligen Europa-Hauses, wo ein großzügiger Neubau errichtet wurde.
Die frühere FZ-Redakteurin Erika Dingeldey hat ihre Erinnerungen an die Eröffnung im Jahr 1958 aufgeschrieben, die viel über den Stellenwert von Kerber in Fulda aussagen und daher an dieser Stelle noch einmal fast in ganzer Länge publiziert werden:
"Ganz Fulda war auf den Beinen, als am 5. September 1958 das erste richtige Kaufhaus der Barockstadt seine Pforten öffnete. Die Fuldaer und Rhöner, bislang nicht gerade verwöhnt vom alten Kerber-Bau in der Marktstraße, staunten: So groß, so toll, so modern. Und dann die Sensation, die sich wie ein Lauffeuer verbreitete: Beim Kerbersch Koarl gibt’s eine Rolltreppe. Es war die erste in Fulda und der Ansturm gigantisch. Groß und Klein, Alt und Jung drängelten sich auf dem schmalen Transportband, das die Schau- und Kauflustigen nach oben beförderte.
Rolltreppenfahren wurde zum Pausenspaß Numero eins vor allem auch für die Mädchen der benachbarten Marienschule. Heimlich schlüpften die ,Großen‘ ab Untersekunda aus dem Schultor, ab ging’s über die Lindenstraße rüber zum Kerber. Dort nämlich wartete neben der Rolltreppe eine zweite Neuheit, die eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausübte: die Milchbar. Die runde Theke im oberen Stockwerk wurde zum ,In-Treff‘ der Jugend. Wer sich auf den Barhockern einen Platz ergattern konnte, gehörte dazu. Hier einen Milchshake zu schlürfen, großspurig eine Zigarette zu rauchen (was zu Hause strengstens verboten war) und mit den Jungs vom Domgymnasium ein bisschen zu flirten, das war Seligkeit."
Wie Erika Dingeldey haben sicherlich auch ganz, ganz viele andere ihre eigenen schönen Erinnerungen an Kerber. In dem als Familienbetrieb geführten Kaufhaus fühlten sich aber auch stets die Beschäftigten wie in einer großen Familie und gaben gerne ihr Bestes. Karl Kerber dankte es ihnen früher mit einer großzügigen betrieblichen Altersversorgung und mit scheinbaren Kleinigkeiten. So erhielt jeder beim Verlassen des Hauses am Abend des 30. April fünf D-Mark "Maigeld".
Bereits 1991 hat Kaufhof die Kerber-Gruppe, zu der auch Filialen in anderen Städten gehörten, gekauft. 2004 erfolgte dann die Umfirmierung von Kaufhaus Kerber in Galeria Kaufhof. Und egal, wer aus dem Großkonzern nun für die Schließung verantwortlich ist: Der oder die können die Fuldaer Bürger allesamt mal kreuzweise.