Archiv
Sachor – Erinnere Dich. Schüler der Winfriedschule hatten den Wortzug mit Teelichtern ‚gezeichnet‘. - Fotos: Jutta Hamberger, alle historischen Aufnahmen stammen von der Seite juden-in-fulda.org

REGION Sucht nach Erinnerungen in euren Familien

Zeitzeugengespräch mit Nachfahren Fuldaer Juden

14.11.21 - "Ich saß in einem Raum mit vielleicht 300 Kindern. ,Wer von euch will einen richtig tollen Preis gewinnen?', fragte ich in die Runde. Viele Hände gingen hoch, und ich wählte zwei Kinder aus. Beide kamen nach vorn und sahen mich fragend an, natürlich wollten sie wissen, was sie denn gewonnen hatten. ,Ihr zwei habt das große Los gezogen. Ihr werdet leben.' Ich wende mich den anderen zu: ,Und ihr werdet sterben.'"

Für Beziehungen braucht man Menschen, nicht Statistik

Zeitzeugengespräch im Haus der Mikwe (von links: Ofra und Simon Givon, Ethan und Elizabeth ...

Ofra und Simon Givon, Ethan und Elizabeth Bensinger, Anja Listmann und Michael Braunhold. ...

Als Michael Braunold gegen Ende unseres Gesprächs diese Szene erzählt, wird es auch in unserer kleinen Runde still. "Weißt Du, ihr Deutschen lernt den Holocaust nur über Statistik kennen. Ich versuche, es persönlich und anschaulich zu machen", erklärt er mir. "Und das wirkt. So können sie die schiere Dimension des Grauens verstehen, ganz anders, als wenn ich ihnen sagen würde, wie viele Kinder in den KZ ermordet wurden, und dass nur 10.000 jüdische Kinder durch Kindertransporte gerettet wurden. Denn wer kann diese Zahlen fassen? Niemand kann das. Und dann erzähle ich ihnen von mir, denn mein Vater Josef war eines der so geretteten Kinder."

Wir sitzen im Haus, in dem einst die Mikwe untergebracht war (Reste sind im Keller noch zu sehen), Anja Listmann, die Beauftragte für Jüdisches Leben in Fulda, hat hier ihr Büro und ist unsere Gastgeberin. Wir, das sind Ethan Bensinger und seine Frau Elizabeth. Sie kommen aus Chicago, seine Vorfahren gehören zu den alteingesessenen jüdischen Familien Trepp, Kamm und Sichel. Die Sichels hatten ein gutgehendes Textil- und Kleidungsgeschäft, dort erwarb man seine Aussteuer. Ofra Givon und ihr Mann Simon sind aus Israel gekommen, sie stammt aus der Fuldaer Familie Flörsheim, seine Familienwurzeln liegen in Polen. Ihre Mutter Batya (Berta) war eine Marienschülerin, genau wie ich – das verbindet uns sofort. Michael Braunold kam aus Tel Aviv, seine Familie besaß in Fulda einst eine florierende Maschinenhandlung. Sein Vater Josef bekam einen der begehrten Plätze in einem der Kindertransporte nach England.

Ethan Bensinger greift den Gesprächsfaden auf. "Warum machen wir das, was wir machen? Nun, sicher, weil es uns Freude macht. Aber auch weil wir wissen, dass die wenigsten Menschen, erst recht Kinder, jemals einen Juden, einen Israeli oder einen Holocaust-Überlebenden getroffen haben. Es ist anders, als wenn man nur darüber liest." Ich frage ihn: "Haben Sie deshalb diesen wunderbaren Film über das Selfhelp-Home in Chicago gemacht?" Er freut sich sichtlich, dass ich den Film gesehen habe. "Den Film zeige ich in Schulen, wenn ich in Deutschland unterwegs bin. Das Heim wurde für jüdische Flüchtlinge und Holocaust-Überlebende eingerichtet. Es gibt nur noch so wenige Überlebende. So können die Kinder ihnen begegnen, wenigstens im Film, sie können die brüchigen Stimmen hören, sie sehen die Tränen und das Lachen – und können die Erfahrung dieser Leben nachempfinden. Mit Statistik gelingt das nicht."

Thekla und Willy Kamm

Rachel und Ernst Bensinger

Fanny (Rachels) Bensingers 101. Geburtstag, umringt von ihrer Familie. Ganz links ...

Ich frage, ob Emotionen nicht überhaupt der Schlüssel zum Verständnis seien und ob die 1979 ausgestrahlte US-Serie "Holocaust" deswegen solch eine durchschlagende Wirkung gehabt habe. "Ja, das war ein Wendepunkt", meint Ethan Bensinger. "Auf einmal ging es um Menschen und Schicksale, nicht mehr um abstrakte 6 Millionen." "Schindler’s List" sei 1994 dann nochmals so eine Wegmarke gewesen. Die "Hollywoodisierung" habe geöffnet, man habe danach anders reden können über die Geschehnisse jener Jahre.

Nicht alle hatten dasselbe Deutschland

Darüber reden – mein Stichwort. Ich frage, ob meine Gesprächspartner einen ähnlichen Eindruck hätten wie ich: Die Überlebenden hätten oft über Jahrzehnte, wenn nicht für immer geschwiegen über ihre Erfahrungen, die Kinder oft nichts oder wenig gefragt, aber bei den Enkeln steige das Interesse wieder stark an – bei denen der Opfer genauso wie bei denen der Täter. Um mich herum nickende Köpfe. Aber – das wird gleich klar – es sind unterschiedliche Geschichten, die sie erzählen.

"Sie kamen raus", sagt Michael Braunold. "Und genau dort begann die Wand des Schweigens. Das Trauma der Überlebenden war so groß, dass es sich auf viele Arten manifestierte. Meine Eltern etwa haben nie wieder Deutsch gesprochen. Bis ich 15 Jahre alt war, sprachen wir auch nie über den Holocaust, dann befanden meine Eltern, jetzt sei ich alt genug. Aber wir haben nie über die mehr als 40 Verwandten geredet, die einfach verschwanden, die ermordet wurden."

Ofra Givon: "Michael, das Deutschland meiner Eltern war ganz anders. Meine Eltern verließen Deutschland 1935, also schon vor der Reichspogromnacht, und gingen nach Palästina. Und alles, was sie dort redeten, war, wie gut es in Deutschland gewesen sei, erst später habe sich alles so verschlechtert. Sie sprachen immer Deutsch. Meine Mutter zwang mich, Deutsch zu lernen. Ich habe erst später in meinem Leben verstanden, wie recht sie hatten. Heute bin ich ihr jeden Tag meines Lebens dankbar dafür!"

Ethan Bensinger: "Bei meinen Eltern war es ähnlich. Meine Mutter kam 1935 nach Palästina, und sie lebte dort ziemlich ähnlich wie zuvor hier. Sie liebte die Kaffeehauskultur, sie ließ sich ihre Möbel nachschicken – die reisten erst nach Tel Aviv, heute stehen sie bei mir in Chicago. Damals war Deutsch in Palästina die lingua franca. Zuhause, mit der Familie und mit Freunden, sprachen wir Deutsch, mit Angestellten sprach man Hebräisch oder Arabisch – mein Vater konnte besser Arabisch als Hebräisch!"

Ofra Givon: "Das war bei uns auch so, mein Vater sprach fließend Arabisch, aber zeit seines Lebens schlecht Hebräisch."

Fanny (Rachel) Bensinger

Ernst und Fanny Bensinger mit Ethan

Joseph Braunolds Kindertransport-Ausweis

Ethan Bensinger: "Wir haben unsere beiden Töchter schon als kleine Kinder mitgenommen nach Deutschland, wir sind mit ihnen zu den Orten gereist, die für uns von Bedeutung waren, weil unsere Familie dort lebte. Als Teenager haben sie rebelliert, da hatten sie die Nase gestrichen voll vom Holocaust. Es dauerte, bis sie sich wieder damit beschäftigen wollten. Und morgen kommen beide, wir reisen nach Kehl, wo ein Stolperstein für die Schwester meines Großvaters verlegt werden soll."

Brücken in die Zukunft bauen

Wir sprechen über die Gedenkfeier am Platz der alten Synagoge und sind uns einig, wie berührend und bewegend sie war. Die Geistlichen – Bischof Michael Gerber, Pfarrer Michael Grimm, Roman Melamed, Iman Samran Janjua – hatten dieselbe Botschaft: Wir alle sind Menschen und sollten einander mit Respekt und Hilfsbereitschaft begegnen. Oder auch so: Religion soll verbinden, nicht trennen. Es wäre so einfach, wenn es nur um Religion und nicht immer auch um Politik ginge, meint Michael Braunold, der nach der Gedenkfeier noch lange mit Iman Samran Janjua sprach: "Ich habe mich dabei immer gefragt, wäre das auch in Israel möglich gewesen? Die Antwort lautet natürlich, nein – mir ist erst in diesem Gespräch klar geworden, dass ich noch nie zuvor mit einem Iman gesprochen habe. Es war erhellend für mich. So etwas ist nur hier möglich, nur hier kann ich so eine Erfahrung machen und mich meinen eigenen Vorurteilen stellen. Auch deshalb mache ich das, was ich mache."

Wir sprechen darüber, wie auch zwischen Alten und Jungen Brücken entstehen, denn Ofra, Ethan und Michael sind Brückenbauer. Sie gehen oft in Schulen, sprechen dort mit Kindern und Jugendlichen, erzählen von ihrem Leben und dem ihrer Familienangehörigen, die vertrieben und ermordet wurden oder es schafften, Deutschland zu verlassen.

Ethan Bensinger: "Manchmal stellen Kinder Fragen, die sehr schwierig zu beantworten sind. Einmal wollte ein Kind von mir wissen, ob ich Hitler getötet hätte, wenn ich dazu die Chance gehabt hätte. Was antwortet man da? Ich sagte ihm, ich wüsste es nicht, ich wüsste einfach nicht, ob ich dazu in der Lage gewesen wäre. Ich sagte ihm, wie sehr ich die Menschen in Ehren halte, die es versucht hätten, etwa Claus Schenk von Stauffenberg. Eine andere Frage war verdammt schlau, ein Kind wollte wissen, wie die Deutschen die Juden eigentlich gefunden hätten. Ich erklärte, dass IBM damals schon einen Prototyp digitaler Datenverarbeitung gehabt hätte, auslesbare Lochkarten, und dass die Nazis sich das zunutze gemacht hätten."

Josef Braunolds Pass

Gerda und Joseph Braunold um 1934

Karoline Flörsheim, Ofra Givons Großmutter

Michael Braunold: "Kinder stellen Fragen, die Erwachsene sich nie trauen würden. Man braucht Kinder, damit solche Fragen gestellt werden." Solche Fragen – wie? Ich will es wissen. "Einmal fragte mich ein Junge, ob die Juden Zugtickets nach Auschwitz hätten kaufen müssen. Aus seiner Erlebniswelt war das vollkommen folgerichtig, er war schon oft mit dem Zug gefahren und wusste, dafür braucht man ein Ticket. Ich antwortete: Ja, aber nicht für die erste oder zweite Klasse, sondern cattle class tickets. Es arbeitete etwas ihn ihm, bis er die Übersetzung hatte, dann aber verstand er."

Das soll ein Ort der Lebenden werden

Jetzt, da die Stadt Fulda den Platz erworben hat, auf dem die ehemalige Synagoge stand, wird möglich, was jahrelang nicht denkbar war – eine Neugestaltung des Platzes, aber nicht als Ort der Toten, sondern als Ort für die Lebenden. Darüber haben die drei auch mit Oberbürgermeister Dr. Wingenfeld gesprochen, sie sind der Meinung, hier solle ein Begegnungsort entstehen, kein Museum – mir gefällt die Idee sehr. Ich muss an den Film "Masel Tov Cocktail" denken, in dem Dima (jung, jüdisch, russisch, deutsch) konstatiert, die Deutschen "könnten" nur tote Juden, aber keine lebendigen. Ja, wir haben es nötig und es tut uns gut, nicht nur zu gedenken, sondern uns mit den hier lebenden Menschen jüdischen Glaubens auseinanderzusetzen und unseren Teil dazu beizutragen, dass sie ohne Anfeindungen in Deutschland leben können. Antisemitismus ist in gewissen Kreisen wieder salonfähig geworden, umso wichtiger wird die eigene klare Haltung.

Ich möchte zum Schluss wissen, ob Ofra, Ethan und Michael sich etwas von oder für Fulda wünschen. Tatsächlich, sie haben einen Wunsch, und der hängt mit zwei Tischdecken zusammen – OSTHESSEN|NEWS hat am 24.02.2019 darüber berichtet: https://osthessen-news.de/n11611570/chicagoer-anwalt-reist-extra-nach-fulda-bloss-wegen-zwei-tischdecken.html

Julius Jakob Flörsheim, Karolines Ehemann. Er fiel im Ersten Weltkrieg. ...

Stilles Gedenken am Platz der Alten Synagoge

Mehr als 80 Jahre hütete die Familie Römhild diese Decken aus dem Textilgeschäft Sichel, heute sind sie im Besitz Ethan Bensingers, einem Enkel von Thekla Sichel und Großneffen Hugo Sichels.

"Wissen Sie, ich habe sonst nichts, was mich physisch mit ihm verbindet", sagt Ethan. "Es war so unglaublich, diese beiden Decken in Händen zu halten. Und noch viel unglaublicher war es, einen Gerechten unter den Völkern* in der eigenen Familiengeschichte zu finden. Paul hat Hugo immer wieder geholfen, ihm z. B. auch Lebensmittel gegeben, als Juden nichts mehr einkaufen konnten. Er hat versucht, ihn zu retten. Diese Geschichte macht klar, es gab gute und böse Deutsche."

(* ein Ehrentitel, mit dem nichtjüdische Menschen ausgezeichnet werden, die in der NS-Zeit ihr Leben dafür einsetzten, Juden vor der Ermordung zu retten).

Liebe Fuldaer, sammelt Erinnerungsstücke!

Und dann kommt Ethan Bensinger zu dem Wunsch, den sie an uns Fuldaer haben. "Ich wünsche mir, dass die Fuldaer in ihre eigenen Familiengeschichten hineinschauen. Vielleicht haben sie einmal ein Geschenk erhalten, vielleicht haben sie auf einer Auktion etwas gekauft, einen Kerzenhalter etwa, wie wir sie für die Sabbatkerzen benutzen. Kleine Dinge, die aber eine Bedeutung haben. Ich wünsche mir, dass die Fuldaer ihre Verwandten befragen, wenn sie in Schränken stöbern. Vielleicht finden sie Familien-Erinnerungsstücke, Botschaften von gestern für heute."

Ofra Givon: "Niemand ist schuld, das ist ganz wichtig. Wäre es nicht wundervoll, wenn man etwas geben könnte? Schließlich wollen die wenigsten Menschen das Zeug ihrer Eltern haben, aber bevor sie es wegwerfen, sollten sie es hier vorbeibringen."

Michael Braunold: "Das sollte auch anonym gehen, so wie bei einer Babyklappe."

Der Hintergrund: Im Haus der Mikwe gibt es schon einen Begegnungsraum, Anja Listmann will hier auch einen Erinnerungsraum einrichten, mit Dingen, die Geschichten erzählen. Ein paar sind schon da.

Ja, das wäre doch etwas, wenn wir Fuldaer in den Schränken, Kellern und Speichern nach solchen Erinnerungsstücken suchen und sie vorbeibringen! Die Idee klingt in mir nach, als ich nach unserem Gespräch noch kurz auf dem Synagogenplatz verweile, dem man seine Stimme genommen und der sie noch nicht wiedergefunden hat. Aber er wird sie finden, ich bin ganz sicher – auch, weil es Menschen wie Ofra, Ethan und Michael gibt, die sich genau dafür unermüdlich einsetzen. (Jutta Hamberger) +++


Über Osthessen News

Kontakt
Impressum

Apps

Osthessen News IOS
Osthessen News Android
Osthessen Blitzer IOS
Osthessen Blitzer Android

Mediadaten

Werbung
IVW Daten


Service

Blitzer / Verkehrsmeldungen Stellenangebote
Gastro
Mittagstisch
Veranstaltungskalender
Wetter Vorhersage

Social Media

Facebook
Twitter
Instagram

Nachrichten aus

Fulda
Hersfeld Rotenburg
Main Kinzig
Vogelsberg
Rhön