Mitka Kalinski mit seinem Buch, dass auf Deutsch den Titel "Ich war doch noch ein Junge" trägt. - Fotos: Privat

REGION HEF-ROF "Ich war doch noch ein Junge"

Die Lebensgeschichte eines Menschen, der den Zweiten Weltkrieg überlebte

13.12.23 - "Ich war doch noch ein Junge" mit dem Untertitel "Ein Holocaust-Überlebender versöhnt sich mit seiner Vergangenheit" heißt das Buch über Mitka Kalinski, der heute in den USA lebt. Als Kind wurde er 1939 von deutschen Truppen aus der Ukraine verschleppt. Seine lange Geschichte führte ihn während des Zweiten Weltkrieges auch in den Landkreis Hersfeld-Rotenburg. 

Das Buch wird am Donnerstag, 14. Dezember, um 19 Uhr im Rotenburger Rathaus präsentiert. Dazu laden der Förderkreis Jüdisches Museum Rotenburg, der Geschichtsverein Rotenburg, die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit sowie der Kultur- und Tourismusverein Rotenburg ein. 

Jugendfoto von Mitka Kalinski aus dem bayerischen Aibling.

Besuch auf dem Friedhof Pfaffenwald bei Beiershausen im Landkreis Hersfeld-Rotenburg ...

Die Geschichte Kalinskis liest sich wie sicherlich viele Geschichten, die sich im Zweiten Weltkrieg ereigneten. Und doch fesselt der lange Weg des damaligen Jungen. "Mitka wusste aus Erzählungen, dass er irgendwo in der Ukraine auf die Welt gekommen war", so Dr. Heinrich Nun, Historiker aus Rotenburg an der Fulda. "Aber er verfügte über keinerlei Dokumente, wann und wo er geboren wurde und wer seine Eltern waren. Als er 1949 in das IRO-Kinderdorf in Bad Aibling gebracht wurde, fand man dort heraus, dass er als Demitro (Rufname Mitka) in dem Ort Bialcevkiew nahe Kiew geboren wurde. Spätere Forschungen führten zu dem Ort Bila Tserkva, ebenfalls nahe Kiew, als seinem Geburtsort. Als Geburtsjahr hatte man in Bad Aibling 1932 angenommen und den 14. Dezember als Geburtstag bestimmt – in Anlehnung an den Termin seiner Registrierung am 14. Dezember 1942 im Rotenburger Rathaus als zehnjähriger Internierter im Haus Badegasse 14", so Nuhn.

Niedergeschossen, aber nicht getötet

"Mitkas Leidenszeit begann mit Hitlers Überfall auf Polen im September 1939. Zu dieser Zeit war er Schüler in einem Internat in Polen. Seine früheste Erinnerung an damalige Geschehnisse war ein Bombenangriff 1941 in der Ukraine, wohin er von Polen Ende 1939 gelangt war und wo er von deutschen Besatzern aufgegriffen und verschleppt wurde", hat Nuhn recherchiert. An einem anderen Ort sei er mit vielen anderen Menschen zu einer langen Schlucht geschafft worden, wo man sie niedergeschossen hätte. Als Verwunderter, aber nicht tödlich Getroffener, hätte er aus den Leichenbergen hervorkriechen können. Vermutlich sei dies im ukrainischen Babin Yar gewesen, wo im Jahr 1941 33.000 Juden ermordet wurden. Danach sei er wieder in Gefangenschaft geraten und in verschiedene Konzentrationslager geschafft worden, wozu Auschwitz-Birkenau und Dachau und dann Buchenwald gehört hätten.

Schließlich sei er im Lager Pfaffenwald bei Bad Hersfeld-Asbach gelandet. Dort hätte ihn der Lagerkommandant als ein für Zwangsarbeit geeignetes Kind eingestuft. Am 14. Dezember 1942 sei er dann von einem NS-Funktionär namens Gustav Dörr nach Rotenburg an der Fulda geholt worden, der ihn im Rathaus unter dem Vornamen Martin registrieren ließ, ihn oft aber "Judenfresser" nannte. Sieben Jahre blieb er in Rotenburg als Zwangsarbeiter bei dem Fuhrunternehmer und Landwirt Dörr. "In der Familie Dörr sei er geschlagen worden, er habe oft unter Hunger gelitten und sei gezwungen worden, Hinrichtungen beizuwohnen. Als er sich mit einem der Hunde auf dem Bauernhof angefreundet hatte, habe Dörr den Hund getötet und ihm das Fell des Hundes zur Suchaufgabe gegeben", so Nuhn.

Ein Pferdewagen des Fuhrunternehmers Gustav Dörr.

Neues Leben in Nevada

1949 wurde Kalinski von amerikanischen Fluchthelfern zur Flüchtlingshilfe der Vereinten Nationen nach Bad Aibling in Oberbayern in ein Waisenhaus gebracht. Durch die Vermittlung und Hilfe einer amerikanischen Organisation kam er 1951 nach Amerika. Zwei Jahre später heiratete er Adrienne Harder, eine protestantische Christin. Aus der Ehe mit Adrienne Harder gingen vier Kinder hervor. Die Familie ließ sich in Sparks nieder, einem kleinen Ort im Bundesstaat Nevada nahe dessen Hauptstadt Reno. Den Lebensunterhalt für seine Familie besorgte Mitka Kalinski als Bauarbeiter. Bis auf den heutigen Tag kann er weder lesen noch schreiben, was ihn sehr belastet.

Kalinski mit Hillary Clinton.

Nach vielen Jahren einer hartnäckigen Suche nach innerem Frieden und seiner Identität konnte er 2001 einen vorläufigen Schlusspunkt setzen. Er konnte nämlich in einem festlichen Rahmen seine Bar Mitzwa feiern, seine "Konfirmation", wonach er sich viele Jahre gesehnt hatte, so Nuhn. "Als ich jüdische Gebete hörte", so Mitka Kalinski, "drehte sich alles in meinem Kopf. Ich war sicher, dass ich die Worte schon einmal gehört hatte." Aber er wusste immer noch nicht, wer er wirklich war. Adrienne hatte die Idee, nach Deutschland zu reisen, um  Dörr aufzusuchen. Durch Vermittlung eines Rabbiners fanden sie einen Germanistik-Professor der University of Nevada, der Telefonkontakt mit Dörr aufnahm. Er fand heraus, dass Gustav Dörr noch auf seinem Hof in Rotenburg lebte. Er verstarb jedoch drei Monate von Kalinskis Deutschlandreise und dessen Familie weigerte sich, ihm Auskünfte zu geben. "Mitka betont, er verspüre keinen Hass auf die Familie Dörr. Um jemanden zu hassen, muss einen jemand gelehrt haben zu hassen. Und mich hat niemand zu hassen gelehrt", zitiert Nuhn Kalinski.

Drei Autoren fassen Kalinskis Leben in Buchform zusammen

Seit seiner Bar Mitzwa im Jahr 2001 als älterer Mann und den damit verbundenen öffentlichen Reaktionen ist Mitka Kalinski in den USA eine bekannte Persönlichkeit, dessen außergewöhnlicher Lebensweg in vielen überregionalen Tageszeitungen und Magazinen ein Echo fand. Nachdem es schon zwei Anläufe gegeben hatte, sein Leben und Schicksal in einer Buchpublikation zu würdigen, gelang dies 2021 einer dreiköpfigen Autorengruppe mit dem Journalisten Steven Brallier, der promovierten Sprachwissenschaftlerin Lynn Beck und dem Präsidenten des Theologischen Seminars in Hartford, Professor Joel Lohr. Das Buch mit dem Titel "Mitka’s Secret. A True Story of Child Slavery & Surviving the Holocaust" erschien im Juni 2021. Die deutsche Übersetzung gibt es seit wenigen Monaten.

Für ein gutes Viertel des 300-seitigen Buches sind Rotenburg an der Fulda und das ehemalige Zwangsarbeitslager Pfaffenwald in dem Hersfelder Stadtteil Asbach die Schauplätze. Für letzteren Handlungsort konnten die Autoren auf die Forschungen von Susanne Hohlmann-Hofmann zurückgreifen, die Mitka auch bei seinem Besuch 1984 vor Ort begleitet hatte. "Betreffend Rotenburg waren den Buchautoren meine Veröffentlichungen eine wichtige Quelle", sagt Dr. Heinrich Nuhn.

Sinfonische Dichtung über die Geschichte

2017 hatte Jordan S. Roper, ein US-amerikanischer Komponist, der in der Filmindustrie tätig ist, Mitkas Lebensweg mit all seinen Höhen und Tiefen zu einer fünfminütigen, sinfonischen Dichtung verarbeitet, der er den Titel "My Name is Mitka" gab. "Mein Ziel war es, Mitka Kalinskis Weg aus tragischem Elend zu persönlichem Triumph darzustellen", so Roper damals. Mit der Wahl des Titels für seine sinfonische Dichtung will Roper dem Moment in Mitkas Leben einen besonderen Ausdruck verleihen, als dieser erstmals seinen richtigen Namen erfuhr und daraufhin immer wieder begeistert schrie: "My name is Mitka!" Die Premiere hatte Ropers Werk am 14. Januar 2017 in Cheyenne (Wyoming), bald danach kam es zu einer zweiten Aufführung durch das Reno Philharmonic Orchestra mit 1.400 Zuhörern in Reno, nahe Mitka Kalinskis Wohnort Sparks in Nevada.

Es gäbe noch viel zu berichten. Wer sich für die Lebensgeschichte Mitka Kalinskis interessiert, kann die Buchpräsentation am Donnerstag besuchen oder das Buch, das im SCM-Verlag erscheinen ist, für 25 Euro erwerben. (cdg) +++


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