Literaturpreis Stadt Fulda geht an Konstantin Ferstl mit "Die blaue Grenze"
20.06.24 - Zum sechsten Mal wurde am 19. Juni der Fuldaer Literaturpreis vergeben – an Konstantin Ferstl für sein Erstlingswerk "Die blaue Grenze". Über die Preisvergabe entschied die Jury mit den beiden Literaturkritikern Julia Schröder und Christoph Schröder, den Autoren Zsuzsa Bánk, Christoph Peters und der letztjährigen Gewinnerin des Fuldaer Literaturpreises Silke Stamm. Sie alle waren zur Preisverleihung nach Fulda gekommen.
Ein Abend der Gleichzeitigkeiten
Man kam gar nicht umhin, an diesem Mittwochabend diverse Gleichzeitigkeiten zu bedenken. Einerseits spielte die deutsche Nationalmannschaft in Stuttgart ihr zweites EM-Spiel – und Kulturamtsleiter Dr. Heiler hatte das Glück, ein Ticket bekommen zu haben. Andererseits spielt Nordkorea in Ferstls Debütroman eine wichtige Rolle, und genau dorthin zog es heute Putin für Potemkin’sche Inszenierungen. Einerseits kennt Ferstl barocke Pracht von Jugend auf, andererseits überwältigten ihn der Fürstensaal und die Veranstaltung dann doch. Er genoss das schöne Gefühl, "sich gesehen und gelesen zu fühlen", wie er dem Publikum anvertraute.Nordkorea war kein Thema an diesem Abend, wohl aber die Nationalelf. Bevor es losging, lag das deutsche Team schon 1:0 in Führung, und bevor wir fertig waren, hatte sie ihren 2:0 Sieg über Ungarn eingefahren. OB Dr. Wingenfeld fand es angesichts dieser Konkurrenz anerkennenswert, wie viele Literaturfreunde den Weg in den Fürstensaal gefunden hatten. Anwesend waren Vertreter der städtischen Gremien, Silke Hartmann von der Agentur Literaturperle, Jutta Sporer vom Leseland Hessen sowie mit der Sparkasse und Parzellers Buchverlag die beiden Sponsoren der Reihe, die seit 33 Jahren ermöglichen, dass diese Lesereihe kostenlos angeboten werden kann. Besonders freute sich der Oberbürgermeister über seinen Vorvorvorgänger OB a.D. Dr. Wolfgang Hamberger, der vor 33 Jahren die Reihe begründet und zu der renommierten Marke entwickelt hatte, die inzwischen so viele Freunde in der Lesewelt gefunden hat.
Fast schon eine Tradition
Mit der nun sechsten Preisverleihung habe der Fuldaer Literaturpreis schon Tradition, befand der OB in seiner Begrüßung. Er sei auch deshalb gestiftet worden, weil Fulda gerade junge Menschen dazu ermutigen wolle, zu schreiben. Sagen wir es so – es ist der Beginn einer Tradition, die Wirkung des Preises in die Branche und v.a. in die Leserschaft hinein darf sich unbedingt noch steigern.Laudator Christoph Schröder lobte das "reiche, schöne und verschlungene Buch" und knüpfte an die barocke Pracht von Ferstls Geburtsstadt Eichstätt an. Ferstl sei ein vielseitiger Künstler, nicht nur Autor, sondern auch Musiker und Filmemacher. Schröder erinnerte an die Bücher Fukuyamas ("Das Ende der Geschichte") und Theweleits ("Männerphantasien"), das eine seziere Ferstl in Gestalt eines "Pädagogengenerals", das andere greife er auf und schreibe es weiter in der selbstdisziplinierenden Pflichterfüllung von vier Generationen der Familie Lorentz. Schröder machte zwei Bewegungen in Ferstls Roman aus, eine zurück in die eigene Erinnerung und Familiengeschichte, eine vorwärts als Reise in den Osten. Der Roman sei ein "literarisch bravouröses Befreiungsunternehmen", das sich durch sein anschauliches Erzählen mit größtem Vergnügen lesen lasse.
Schröder hätte in Ferstls Roman auch eine gewisse bajuwarische Unbotmäßigkeit sehen können, das diebisch-subversive Vergnügen daran, Obrigkeiten auflaufen zu lassen und sein Ding zu machen. Drei Beispiele mögen verdeutlichen, was ich meine: Gerhard Polts komödiantische Urgewalt. LaBrassBandas rotzig-freche Mischung aus Brass und Volksmusik. Marcus H. Rosenmüllers moderne bajuwarische Heimatfilme oder Nockherberg-Inszenierungen. Alles Verwandte im Geist und im Herzen.
Abenteurer aus Liebeskummer
Fidelis Lorentz ist der Held der "Blauen Grenze", besser spricht man aber wohl vom Antihelden. Der Name bedeutet treu, gläubig, sicher, eine Namenswahl, die mit feinsinnigem Humor in direktem Gegensatz zu den Verhältnissen und dem Verhalten dieses Antihelden steht. Den Fidelis findet weder Trost noch Sicherheit mehr in seinem Leben. Seine große Liebe J. hat ihm gerade den Laufpass gegeben. So flieht er in die Ferne – auch, um dort sein Glück zu finden.Als erfahrene Leser/innen wissen Sie es natürlich besser: In der Ferne findet man, wenn es gut läuft, vor allem sich selbst. Dann aber darf man nicht vor sich selbst davonlaufen. Fidelis‘ Reise ist aber durchaus eine Flucht. Er will mit dem Zug nach Pjöngjang reisen. Das dauert, denn man muss ja zunächst einmal durchs gesamte russische Reich hindurch. Er macht sich mit wenig Gepäck auf den Weg – darunter einer altmodischen Rolleiflex, mit der man nur 12 Fotos machen kann, einem Walkman samt Kassette mit Hits der 80er und einem Taschenmesser.
Fidelis wirkt nicht wie der landläufige Abenteurer, eher wie ein sehr geerdeter, bodenständiger und pragmatischer Bayer. Seine Familie und seine Freunde spielen eine große Rolle und sind konsequenterweise auch auf dieser Reise immer wieder präsent, wenn Ferstl Episoden aus Fidelis‘ Familienleben einstreut und dabei lustvoll durch die Generationen zappt. Anekdote reiht sich an Anekdote, jede für sich amüsant zu lesen, in ihrer Fülle dann aber doch etwas ermüdend. Die für mich spannendsten und gelungensten Passagen des Romans sind die in der Transsibirischen Eisenbahn, in der es immer wieder zu berührenden, komischen und vollkommen abgedrehten Begegnungen kommt, während draußen die Weite, Eintönigkeit und eisige Kälte Sibiriens vorbeigleitet. Bei so einer Zugfahrt ist es gut, wenn man etwas hat, über das man nachdenken kann. Für Fidelis sind das seine große Liebe J., seine Familie und seine Freunde. Es ist, als säßen sie alle mit ihm im Zug.
Schade ist, dass das Thema Nordkorea als Reiseland so viel Raum einnimmt, denn all das, was Ferstl hier beschreibt, ist weder neu noch aufregend. Wir wissen doch, dass dieses Land ein Musterbeispiel für Skurrilität ist, das man nicht bereisen kann, sondern durch das man an der kurzen Leine geführt wird.
Das Weite und die Weite suchen
Die blaue Grenze des Titels meint die des sogenannten Gelben Meeres (Teil des Chinesischen Meers). Als der Held hier angekommen ist, muss er sich unwiderruflich der Erkenntnis stellen: vom Endpunkt der Reise geht’s nur noch zurück nach Hause. Fidelis Lorentz wird als "Handlungsreisender der Traurigkeit" tituliert, weil natürlich der auf jeder Seite mitschwingende Liebeskummer alles dominiert. So ist ein Buch übers Wegfahren und Ankommen entstanden und – auf einer Metaebene – ein Roman, der sich mit der Frage beschäftigt, wieviel Fremde wir uns zumuten und ertragen können oder wieviel Heimat wir permanent in uns tragen. Beim Reisen geht es hier weniger ums tatsächliche Erleben ferner Länder, sondern um unsere Beziehung zu uns selber. Fidelis sucht die Weite, aber eben zunächst auch das Weite.Ferstl las den Beginn des Romans, die Passage, in der Fidelis von J. verlassen wird und die Begegnung mit einem ehemaligen Studienkameraden in der Transsibirischen Eisenbahn. Vielleicht hatten auch andere eine eher aus sonor-bajuwarischen Tiefen emporklimmende Stimme erwartet, und wurden dann wie ich von Ferstls fast zarter Stimme überrascht. Innerlich musste ich grinsen, denn Ferstl hatte erzählt, als 11-Jähriger im Finale des Landes-Vorlesewettbewerbs eine "erste Begegnung mit der Vergeblichkeit" erlebt zu haben, obwohl er felsenfest von seinem Sieg überzeugt gewesen sei. Es gewann aber ein Mädchen mit Sigmatismus – worauf Ferstl an Kultusminister Hans Zehetmairs breiter Brust bittere Tränen vergoss. Ts, ts, ts – mit Sigmatismus kann man 16 Jahre lang als Kanzler regieren und mit zarter Stimme Literaturpreise erringen.
Die Urkunde des mit 10.000 Euro dotierten Fuldaer Literaturpreises hatte wieder Karlos Aha gestaltet, Oberbürgermeister Dr. Wingenfeld überreichte sie Konstantin Ferstl gemeinsam mit Laudator Christoph Schröder und Fuldas Stadtverordnetenvorsteherin Margarete Hartmann.
Die Jury des Fuldaer Literaturpreises hat ersichtlich viel Sympathie für Autoren, die sich am Schelmenroman versuchen (2021 wurde Timon Karl Kaleyta für "Die Geschichte eines einfachen Mannes" ausgezeichnet). Das ist sehr anzuerkennen, erst recht in Zeiten, in denen die weltpolitische Lage nicht allzu viele Anlässe für Fröhlichkeit bietet. Und auch, weil deutsche Literatur nicht gerade für ihren Humor bekannt ist.
Für Humor und Fröhlichkeit der musikalischen Art sorgte das Duo George Wagner und Klaus Schenk, das mit Gitarre, Vibraphon und Kompositionen Wagners einen Mix aus Weltmusik, Reggae, Jazz und guter Laune darbot. Das war ansteckend und machte Spaß, gerade auch, weil es fernab des Gängigen war. Und das passte sehr gut zum Preisträger dieses Jahres, der mit großem Beifall bedacht wurde.
Noch ein Hinweis für alle, die Konstantin Ferstl wegen Musiala & Co. verpasst haben: Radio Hr2 überträgt Ausschnitte der Preisverleihung am 21. Juni um 12:04 Uhr (Wiederholung am 23. Juni um 15:04 Uhr).