Hitverdächtig und klassisch: Akkordeon-Leidenschaft auf höchstem Niveau
02.12.24 - Das bereits 1951 gegründete Akkordeon-Orchester ist eine Institution in Fulda. In seiner langen Geschichte hat es bereits viele Preise eingeheimst und zahlreiche Auslandsreisen gemacht. Fangen wir heute mal mit dem Ende an: Am Schluss standen alle in der Aula der alten Universität – die Standing Ovations für die zwei Orchester und seine beiden Dirigenten waren absolut verdient.
Die Grenzen ausloten
Das Publikum in der bis auf den letzten Platz besetzen Aula bekam ein Programm geboten, das die Möglichkeiten des Instruments voll ausschöpfte. Es gibt kaum ein Instrument, das so viel Spott auf sich zieht, so viele nicht gerade wertschätzende Beinamen trägt und mit so vielen Vorurteilen und Fehlurteilen behaftet ist. Das Akkordeon-Orchester strafte sie heute alle Lügen: Wie anspruchsvoll und artistisch man das Akkordeon spielt, ist ganz ins Ermessen und Können der Musiker gestellt. Mit diesem Instrument kann man ein riesengroßes Repertoire spielen – und genau das bewies dieses Konzert.
Da das Akkordeon ein noch junges Instrument ist, gibt es keine klassische Musik. Will man die spielen, muss man sie entsprechend arrangieren. Gut, wenn man dann einen so erfahrenen Arrangeur wie Konrad Möller in den eigenen Reihen hat! Zusätzlich zum Arrangement erweitert man das klangliche Spektrum, in dem man etwa DAS Elektronium einsetzt, das – anders als das klassische Akkordeon – keine Registerknöpfe besitzt, sondern eine Knopfreihe mit Klangfarben von Blech- bis Holzbläsern und daher sehr gut Orchesterklang simulieren kann. Oder man holt sich Keyboards hinzu, für andere Stücke auch Schlagzeug und Percussion. Es geht immer darum, die Grenzen des Instruments, der Spieler und des Sounds auszuloten
Klassik auf dem Akkordeon Mit der beliebten Orchestersuite Nr. 3 in D-Dur von Johann Sebastian Bach setzte das Orchester die Stimmung: Leicht, beschwingt, fröhlich – passend zu diesem strahlend schönen, ersten Adventssonntag. Von den vier Orchestersuiten Bachs ist die dritte die beliebteste. Das weltberühmte Air erklang an diesem Abend zwar nicht, das Akkordeon-Orchester spielte die Gavottes – in der Barockzeit waren das bei Hof richtig flotte Tänze. Es folgte der erste Satz aus "Il Re Pastore" von Friedrich II., genannt "der Große". Diesen Beinamen hat er sich wahrlich verdient, war er doch preußischer König, Dichter, Flötist und Komponist. Festgehalten hat den kunstsinnigen König Adolph Menzel in seinem weltberühmten Gemälde vom Flötenkonzert in Sanssouci. Hörte man heute zu, konnte man fast sehsuchts-neidisch werden: Was muss das für ein großartiges Musikleben am Hofe Friedrichs II. gewesen sein!
Mit einem Sprung kamen wir dann ins 19. Jahrhundert und zum zweiten Satz aus Felix Mendelssohn-Bartholdys "Reformationssinfonie" (1829). Mit dieser Sinfonie setzte er Luther ein musikalisches Denkmal – man geht nicht fehl, wenn man seine 5. Sinfonie als musikalisches Manifest begreift. Mendelssohn ging es sicher nicht nur um Luther und die Reformation, er setzte sich als getaufter Jude auch mit dem christlichen Glauben und der Religion an sich auseinander. Liszts Ungarische Rhapsodie Nr. 2 (1851) ist ursprünglich für Klavier solo geschrieben, der Komponist bezeichnete sie als "echten Magyar". Und tatsächlich, hier hören wir alles, was wir gemeinhin mit Ungarn verbinden – pfeffrig scharfe Klänge, zärtliches Liebessäuseln, bukolische Landschaftsbilder, feurige Reiter. Kein Wunder, dass diese Rhapsodie so beliebt wurde!
Hitverdächtig
Der "Tango pour Claude", von Richard Galliano (1993), in dem Ute Jahn als Solistin brillierte, war das Wunschstück des Publikums, das sich jedes Jahr ein Stück wünschen kann, das dann im folgenden Jahreskonzert gespielt wird. Was für eine schöne Idee! Es folgte "Sous le ciel de Paris", ein sog. Musette-Walzer von Hubert Giraud (1951). Zu hören war er auch bei der Abschiedsfeier der Olympischen Spiele in Paris, Zaho de Sagazan verneigte sich damit vor der großen Edith Piaf. Olympisch ging es weiter mit "Tico-Tico no Fubá", die Samba von Zequinha de Abreu ist quasi die heimliche Hymne Brasiliens. 2016 erklang sie bei der Abschlusszeremonie in Rio. Die eingängige Melodie und der temperamentvolle Rhythmus machten dieses Lied auch außerhalb Brasiliens schnell zu einem Hit.
Der Däne Jacob Gade leitete ein Kino-Orchester und schrieb seinen Tango "Jalousie" als Begleitmusik zum Stummfilm "Don Q. – Sohn des Zorro" mit Douglas Fairbanks und Mary Astor (1925), die "Eifersucht" erklingt aber auch in anderen Filmen, etwa "Tod auf dem Nil" (1978) nach Agatha Christie. Den ersten Teil beendete das Stück "Musicien" – in dem Niels Kolbe mit echtem Waschbrett vor dem Waschbrettbauch einen sympathischen und vom Publikum gefeierten Auftritt hinlegte.
Das Projektorchester 50+ Zwei Orchester – zwei Dirigenten: Hatte im ersten Teil noch Richard Doernbach am Pult gestanden, leitete Marco Fischer dann das erst 2023 an der Musikakademie in Schlitz gegründete Projektorchester 50+. In ihm spielen Musiker/innen, die allesamt auch in ihren Heimatorchestern aktiv sind, aber – so Moderatorin Petra Klostermann – vom Akkordeon einfach nicht genug kriegen können. Im Projektorchester spielen Musiker aus ganz Hessen mit. Besonders mit zwei Medleys begeisterten sie das Publikum – dem Abba-Medley von "Dancing Queen" über "Mamma Mia" und "Fernando" bis "The winner takes it all" und dem Back to the Sixties-Medley mit Hits wie "Venus" (Shocking Blue), "Get back" (Beatles), "Proud Mary" (John Fogerty) und zur Freude und zum Mitsingen für alle schließlich noch "Marmor, Stein und Eisen bricht" (Drafi Deutscher).
"One Tango" von Ian Watson (2018) war das einzige, original für Akkordeon geschriebene Stück des Abends. Es beginnt wie Astor Piazolla und endet wie der Song "One" von U2 – und so erklärt sich auch der Name. "Macarthur Park" von Jimmie Webb schrieb der in einer Phase tiefen Liebeskummers. Obwohl der Song geschlagene sieben Minuten dauert, wurde er sehr erfolgreich und oft gecovert. "Hey Jude" von den Beatles wäre ohne diese erfolgreiche Vorlage wohl nie so lange geworden. Mit "SwissSka", einem Crossover aus schweizerischem Volkslied und jamaikanischem Ska, endete schließlich dieses rundum gelungene Konzert. Was für ein schöner Start in den Advent und den Dezember! (Jutta Hamberger) +++