Hoffentlich kommst Du bald wieder! - Martin Doerry liest aus "Lillis Tochter"
07.12.24 - Nicht zum ersten Mal ist Martin Doerry zu Gast in der Reihe "Unbekannte Nachbarn", die Ingeborg Kropp-Arend mit der Stadt Fulda und dem Fuldaer Geschichtsverein gemeinsam veranstaltet. Vor drei Jahren las er aus "Mein verwundetes Herz", der Geschichte seiner Großmutter Lilli Jahn. In seinem neuen Buch geht es um seine Mutter Ilse, ein Opfer des Dritten Reichs, deren seelischen Verletzungen, Traumata und Ängste ihr gesamtes Leben überschatteten.
Das "feine Schweigen" brechen
Dass der Abend in der historischen Rabbiner-Villa stattfinden konnte, war natürlich das Tüpfelchen auf dem i, auch wenn platzbedingt nur eine handverlesene Schar von Zuhörer:innen dabei sein konnte. Ingeborg Kropp-Arend begrüßte die Gäste mit dem Hinweis, man befinde sich auf der Etage und in den Räumen, in denen die Familie Oskar Nußbaum von 1903 bis 1909 gewohnt hatte. Mehr brauchte es nicht, um allen die Geschichte und Tragik des Hauses und seiner Bewohner in Erinnerung zu rufen.
Der deutsch-amerikanische Historiker Fritz Stern hatte vom "feinen Schweigen" gesprochen, dem Schweigen über das Unrecht, dem Wegsehen und der Duldung von Verbrechen, derer sich viele Deutsche schuldig gemacht hätten. In der Zeit des Dritten Reichs genauso wie in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik. Das Schweigen schützte einerseits die Täter, andererseits aber auch die Opfer vor ihren entsetzlichen Erinnerungen. Doerry erzählt in seinen beiden Büchern gegen das Schweigen an. Dabei habe er es sich nicht leicht gemacht, diese beiden intimen "Familiengeschichtsbücher" zu schreiben, beiden seien Jahre des Nachdenkens vorausgegangen. Entscheidend sei für ihn gewesen, über die Spätfolgen dieser Erfahrungen zu sprechen. "Das spiegelte sich für meine Mutter in allem, und ich wollte klarmachen, wie das ganze Generationen traumatisiert hat."
Prägende, traumatische Erfahrungen
Auch in Doerrys Familie wurde geschwiegen. Über die Ermordung von Lilli in Auschwitz, über die schon in früher Kindheit erlebten antisemitische Erfahrungen, etwa wenn Ilse am Schaukasten des Hetzblattes "Stürmer" vorbeiging, in dessen Rahmen das Zerrbild eines langnasigen Juden geschnitzt gewesen sei. "Sie hat lange nicht begriffen, dass auch sie und ihre Mutter damit gemeint seien". Mit der Verhaftung der Mutter übernahm die 14-jährige Ilse die Verantwortung für ihre jüngeren Geschwister. Das Verhältnis von Mutter und Tochter veränderte sich, sie begegneten sich in ihren Briefen auf Augenhöhe, als Freundinnen. "Hoffentlich kommst Du bald wieder!", sei der in fast jedem Brief geäußerte Wunsch gewesen, der bald zu einer Beschwörungsformel für die Familie wurde. Vergeblich – denn im Juni 1944 wurde Lilli Jahn in Auschwitz ermordet.
Der Antisemitismus hörte auch nach 1945 nicht auf. Ilses Mann war Jurist, und damit bewegte man sich in Kreisen, in denen die Vergangenheit besonders allgegenwärtig war – ca. 90 Prozent der westdeutschen Juristen waren damals ehemalige Nationalsozialisten, die ihre Karrieren ungebrochen fortsetzen konnten. "Sie hat in jedem älteren Mann einen potentiellen Täter gesehen und sich gefragt, trägt er Schuld am Tod meiner Mutter?", so Doerry. Der Schwiegervater sei Antisemit gewesen, nach dem Krieg womöglich ein noch schlimmerer als zuvor. Die Heirat seines Sohnes Jürgen mit einer "Halbjüdin" habe er zutiefst missbilligt.
Niemand ist frei von der Geschichte, die er ererbt hat
Wenn Martin Doerry von seiner Mutter erzählt, wird deutlich, wie überwältigend und überall die Überlebenden der Shoah weiter mit Antisemitismus konfrontiert wurden. Ausgrenzung und Verletzung waren Standard. Man versteht, warum die Opfer es vorzogen, zu schweigen – Ilse schreibt einmal: "Meine Einsamkeit ist mir ein stiller Zufluchtsort."
Auch Ilses Bruder Gerhard – Justizminister unter Willy Brandt – habe diesen Teil seiner Biographie immer verschwiegen. Nicht einmal, als er am 20. Juli 1970 in der Bonner Beethovengesellschaft die Festansprache zu "diesem in unserer Geschichte leuchtenden Tag" hielt, sprach er über seine Mutter Lilli – die keine drei Wochen vor dem Hitler-Attentat in Auschwitz ermordet worden war. "Und da hätte er davon sprechen können, ich finde sogar, da hätte er es tun müssen", so Martin Doerry.
Jahn tut es nicht direkt, aber ich meine, in dieser Passage hört man die eigene Lebensgeschichte dann doch mitschwingen: "Niemals, in keiner Zeitspanne der deutschen Geschichte, hat es eine solche Inkongruenz der Generationen gegeben wie in diesem Jahrhundert (…) Der Großvater: in Weimar arbeitslos, Mitläufer in der braunen Uniform, die besten Mannesjahre im Krieg geopfert. Der Vater: Hitlerjunge, Flakhelfer, Schwarzhändler, dann hineingewachsen in Wiederaufbau und neue Konsumgesellschaft. Der Sohn: Blumenkind, Bundeswehrleutnant, Fußballfan, kritisch und rebellisch – sie alle sehen dies anders, durch andere Brillen: Drittes Reich und Widerstand, Diktatur und Demokratie, Faschismus und Humanität." Gerhard Jahn zitiert auch aus Willy Brandts Rede zum 8. Mai 1970: "Niemand ist frei von der Geschichte, die er ererbt hat."
Im Jahr 2024, in dem wir kaum noch die Gelegenheit haben, mit Zeitzeugen zu sprechen und von ihrem unmittelbaren Erleben zu hören, sind Bücher wie "Lillis Tochter" umso wichtiger: Hier geht es nicht um die nicht fassbare Zahl von sechs Millionen ermordeter Juden, sondern um das Schicksal einer Frau. Nur so verstehen wir, welche tiefen Wunden das Dritte Reich geschlagen hat und wie sein giftiges Erbe uns noch heute belastet. Nein, niemand ist frei von der Geschichte, die er ererbt hat. Aber wir alle sind frei, sie in Verantwortung anzunehmen und ihr neue, empathischere Kapitel hinzuzufügen.
Eine Besprechung von Martin Doerrys Buch "Lillis Tochter" finden Sie hier:
https://osthessen-news.de/n11752227/martin-doerry-lillis-tochter-mein-beschadigtes-leben.html
(Jutta Hamberger)+++