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22.01.13 - SCHLÜCHTERN
Würdige Karenina: Pfälzer Landesbühne inszeniert das Tolstoi-Schauspiel
Ist Anna Karenina ein lüsternes Ungeheuer, eine skrupellose Verbrecherin oder eine schuldlos Liebende? Die Landesbühne Rheinland-Pfalz hat das Schauspiel nach dem Romanepos von Leo Tolstoi in der Schlüchterner Stadthalle mit Anouschka Renzi in der Hauptrolle mit großem Erfolg aufgeführt.Die 47-Jährige verkörpert die tragische Rolle einer „verheirateten Frau der großen Welt, die sich verliert", überzeugend. Nach Botox und Schönheits-OPs sorgt sie für positive Schlagzeilen in dem Metier, das sie beherrscht. „Ich bin wie ein Hungernder, dem man zu essen gegeben hat. Vielleicht schämt er sich, aber unglücklich ist er nicht", bricht sie als Karenina mit Anstand und Würde, lässt Mann und Kind hinter sich und gibt sich dem werbenden Grafen Wronskij hin. Wohlwissend, dass alle erst Ruhe finden und frei sein werden, wenn sie tot ist.
Leo Tolstoi hat diese Anna Karenina nicht geliebt. Der Dichterfürst mochte diese schöne Frau, deren traurige Blicke beschwörend auf ihm ruhten, einfach nicht. Viel zu ähnlich war sie seiner eigenen Ehefrau Sofja. In der Anziehungskraft der Frauen sah Tolstoi eine zerstörerische Kraft, die ihm immer Angst einflößte. Anouschka Renzi ist weder ein weiblicher Dämon noch eine kopflos verliebte Ehebrecherin. Sie ist keine Madame Bovary, die die Geliebten mit Geschenken überhäuft und sich finanziell ruiniert. Sie bricht mit den Konventionen einer unehrlichen Welt, weil sie das Leben mit dem lieblosen und stereotypen Gatten Alexej Alexandrowitsch nicht mehr ertragen kann und einen Augenblick des Glücks sucht oder mehrere. „Er versteht, er fühlt nicht. Er ist kein Mensch, sondern eine Ministerialmaschine, ein Automat", gesteht sie Wronskij. „Was gäbe ich darum, dich frei zu lieben."
Diese freie Liebe bringt der Karenina später den Tod. Das hat sie gespürt, noch bevor sie dem Rittmeister Wronskij (Matthias Schuppli) ihr Herz öffnete. Anouschka Renzi spielt die tragische Heldin kein bisschen überschwänglich. Eine reife und kluge Frau, die dem „zernichtenden Fatalismus der Geschichte", wie sich Büchner einst ausdrückte, entflieht. Koste es, was es wolle – den Schmerz und die Scham inbegriffen. Als Anna Karenina dem Ehemann nach der entlarvenden Pferderennbahn-Szene die Affäre beichtet, ist ihr Schicksal besiegelt. Karl-Heinz Dickmann spielt den Beamten Karenin abstoßend gut. Sein Angebot, nach außen hin den Schein zu wahren, ist erbärmlich. Der Hass, der aus ihm quillt, ist mehr als gekränkte Eitelkeit wie beim Gutsbesitzer Lewin (Alexander Hanfland), dem Kitty (Barbara Maria Sava), Annas Nichte, einen Korb gibt. Er bestraft sie, indem er ihr den Sohn wegnimmt. Einen Sohn, vor dem er sich ekelt, weil er der Mutter so ähnlich ist. In weiteren Rollen spielten Holger Franke, Sandra Krolik, Dagmar von Kurmin. Die Regie führte Rolf Heiermann.
Tolstois Anna Karenina ist ein Spiegelbild der dekadenten feudalen russischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Das Geständnis des Autors: „Ich arbeite an der langweiligen, trivialen Anna Karenina und bitte Gott einzig darum, dass er mir die Kraft gibt, sie mir so schnell wie möglich vom Hals zu schaffen", ist ein Ausdruck der Sinnkrise, in der sich der Autor in der vierjährigen Schaffensperiode des Epos befand. Das Schicksal seiner Protagonistin ist 140 Jahre später noch immer modern, spannend und ernüchtern realistisch. Gut, dass sich die nicht mehr jugendfrische Renzi daran versucht hat. Schon in zwei Wochen beehrt ein weiterer großer russischer Realist die heimische Theaterwelt. In der Gelnhäuser Stadthalle lässt Fjodor Dostojewskijs „Spieler" am 28. Januar die Roulettekugel rollen. +++ Dietmar Kelkel