Weihnachtsmärkte sind reine Nervensache

13.12.13 - Schlitz hat die größte Kerze, die Fuldaer feiern besonders gesellig, und alle Weihnachtsmärkte in Osthessen haben eines gemeinsam: Sie sind idyllisch, besinnlich, romantisch und still, so dass man sich im Advent auf das Wesentliche konzentrieren kann – die Ankunft des Herrn.   

„Platz da, gehen Sie doch beiseite!" Mit Nachdruck bahnen sich die Rettungssanitäter ihren Weg durch die Massen. Das Dutzend grölender Kerle hat den Junggesellenabschied etwas zu intensiv gefeiert und den Ethanol-Gehalt im Glühwein unterschätzt. Die meisten werden liegend abtransportiert. Der einzige, der sich noch auf den Beinen halten kann, rülpst mir „Last Christmas" ins Ohr. Das Lied habe ich in der letzten Stunde gefühlt zehn Mal gehört. Aber diese Variante ist mir neu. Wenig später benutzt der bald glücklich Vermählte seine blinkende und wackelnde Nikolausmütze, um sie mit einer Mixtur aus halb verdauter Currywurst, Pommes und diversen alkoholhaltigen Flüssigkeiten im Hochdruckverfahren zu befüllen. Mahlzeit!   

Der beißende Gestank fällt glücklicherweise nicht auf. Aus der nächsten Imbissbude ziehen Gerüche, die Greenpeace-Aktivisten in keinem Faultiergehege der Welt dulden würden. Krautwurst, Gyros, Sauerkraut, Zuckerwatte, Schokobanane und Liebesapfel bilden eine für die menschliche Nase explosive Mischung. Wäre ich eine Katze, hätten mich die Helfer von „Komm Heim – Verein für Tiere in Not" schon medienwirksam befreit und an einen anderen Ort gebracht. Aber im Wildtierreservat der Zweibeiner gelten andere Spielregeln.  

Einen Stand weiter baumeln nicht zu identifizierende Holzschnitzereien und Tonarbeiten. „Die habe ich selbst mit meinen Füßen erschaffen. Spüren Sie das Fluidum?", sinniert die Verkäuferin. Ihr Abschluss-Zeugnis als Sozialpädagogin klebt hinter einer Plastikfolie an der Bretterwand. Ähnliche Kunstwerke, nur weitaus diffiziler, produziert mein Berner Sennenhund regelmäßig nach dem Verzehr von Schweineohren. 45 Euro will die Tante für ihre Arbeiten haben, fünf Prozent des Verkaufspreises gehen an das Zentrum zum Erhalt der Magellan-Pinguine vor den Falklandinseln. Ich gebe ihr 50, damit sie mich in Ruhe lässt. Wenig später ist mein Portemonnaie geklaut. 

„Klaus-Dieter, die Gasmaske oder das Schnellfeuergewehr, aber nicht beides." Der Kleine will aber beides, und das lautstark. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, schmeißt er sich so oft in die Pfütze vor der Bude mit dem Spielzeug, bis seine hässliche beige Strickhose bis auf die Knie durchgescheuert ist. Zur Belohnung bekommt auch er eine gescheuert und sowohl die Gasmaske als auch das Schnellfeuergewehr – das ist aus pädagogischer Sicht derart sinnvoll, dass sich die Pinguin-Retterin vom Kunststand ins Handgemenge einschaltet. 

Neben und auf der Eisenbahn, die stupide ihre Runden auf einer Kreisspur mit einem Durchmesser von 2,20 Meter dreht, regieren Chaos, Tränen, Wut, teilweise blanker Hass. Mamis und Papis zwingen ihren vor Angst plärrenden Nachwuchs, wenigstens einmal auf den kleinen Waggons hinter dem Fahrer im Käpt’n-Blaubär-Kostüm Platz zu nehmen, um dann lautstark vor den anderen Eltern zu prahlen, dass ihr kleiner Scheißer schon freihändig fahren kann. Nach jeder Runde ertönt eine Sirene, die lauter ist als ein startender Düsenjäger. Die streikenden Busfahrer halten ihre Kundgebung inmitten des Weihnachtsmarktes ab, die „Brot statt Böller"-Jünger fallen mit einer Hundertschaft ein und das Orchester der Bardoschule präsentiert vorweihnachtliche Klänge. 

Advent – die Zeit der Ruhe und Besinnung. Alles reine Nervensache! (JOCHEN WIELOCH). 

HINTERGRUND: „Wielochs wirre Welt" erscheint heute am fünften Freitag in Folge bei osthessen-news.de. Jochen Wieloch (37) blickt dabei pointiert, humorvoll und teilweise mit einer gehörigen Portion Ironie auf die Ereignisse, die die Menschen in der Region und im Land bewegen. Der Petersberger kennt sich als selbstständiger Redakteur in den Medien Print, TV und Internet bestens aus, ist Buchautor und als Spezialist für Unterhaltungselektronik gefragter Autor für zahlreiche Verlage, Magazine und Fachzeitschriften. Außerdem berät und betreut der 37-Jährige Unternehmen in allen Fragen der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Neben dem ZDF, 3sat und dem Bayerischen Rundfunk arbeitete Jochen Wieloch unter anderem auch für die Motor Presse in Stuttgart und auto-tv in München. Für osthessen-tv.de stellt der Germanist neuerdings regelmäßig automobile Neuheiten in Filmbeiträgen vor.  +++