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- Fotos/Design: Nicole Wagner

REGION WIELOCHS WIRRE WELT (58):

„O Captain! My Captain!“: OB Möller geht von Bord – Baby statt Büro

19.12.14 - Kennedy-Attentat, Mondlandung, erster Wimbledon-Sieg von Boris Becker oder Mauerfall: weltbewegende Ereignisse aus der Rubrik „Wo warst du, als…?“. Seit vergangenem Freitag wird diese Liste um einen schockierenden Eintrag ergänzt. In 20, 30 und selbst noch in 50 Jahren wird man fragen: „Wo warst du am 12. Dezember 2014 um 19.28 Uhr?“ Und jeder, egal ob aus Fulda, München, Berlin, New York, Tokio, Kapstadt oder Melbourne wird sofort jenen schrecklichen Moment vor seinem geistigen Auge aufrufen, als Gerhard Möller seinen Rückzug aus dem Fuldaer Stadtschloss verkündete.

Meine Reaktion auf die Horror-Nachricht war so wie die zig Millionen anderer Bundesbürger auch: Ich habe hemmungslos geweint. Freitag, Samstag, Sonntag, Montag, Dienstag und Mittwoch. Selbst heute sind die Tränen noch nicht getrocknet. Das verlorene „Finale Dahoam“ oder die Champions-League-Niederlage 1999 in der Nachspielzeit gegen Manchester United – urplötzlich unbedeutender Kinderkram. Das Leben kann noch viel gnadenloser, noch brutaler, noch heftiger zuschlagen. Der Mann, der den Fuldaer Dom errichten ließ, die Barockstadt in der schweren Nachkriegszeit wieder auf Kurs brachte, sich für die Aufnahme Fuldas in die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl einsetzte, den Flurgönder genauso wie hässliche Holzhunde und signalrote Sonnenschirme salonfähig machte und sich lediglich in den vergangenen elf Jahren verdientermaßen eine kleine Ruhepause gönnte, geht von Bord. Der Kapitän verlässt die Brücke. Für immer. Kein Wunder, dass die Stadtverordneten aller Fraktionen am Freitagabend auf die Tische kletterten, Haltung annahmen und ihrem OB Respekt zollten: „O Captain! My Captain!“

In sämtlichen Sonntagsgottesdiensten sangen verzweifelte Christen und selbst spontan bekehrte Atheisten die 17. Strophe des Bonifatiuslieds: „Oh Glaubensvater sieh die Not, in der wir uns befinden, der Gerhard uns mit Abschied droht, ein andrer soll sich schinden. Bitt ihn, daß seine starke Hand, weiter schützt das Fuldaer Land.“ Doch gegen Möllers klugen Kopf sind auch himmlische Kräfte wehrlos. Zu Beginn einer erneuten Amtsperiode, so der Oberbürgermeister, wäre er 66 Jahre alt. Na und! Adenauer wurde mit 73 erst Bundeskanzler, Heesters stand noch mit 105 auf der Bühne und Methusalem zeugte mit schlappen 187 Jahren einen Sohn. Mmmmh, sprach der Oberbürgermeister nicht von „familiären und eigenen Interessen“? Dann wird so einiges klar: Der gute Gerhard macht demnächst auf Methusalem… Nachwuchs statt Karriere. Das ist modern und zeugt von Größe, also, bezogen auf seine innere Haltung, Sie verstehen schon.

Trotz aller Trauer ob des Abschieds einerseits und der Vorfreude auf den künftigen Mini-Möller andererseits. Jetzt bewegt uns eine Frage: Wer soll das schwere Erbe antreten? Heiko Wingenfeld und Birgit Kömpel seien an dieser Stelle gewarnt: Denkt an den Lanz! Was aus „Wetten, dass..?“ innerhalb kürzester Zeit wurde ist bekannt. Und Gerhard Möller ist ein Thomas Gottschalk, ein Showmaster im Stadtschloss, eine Rampensau am Rednerpult, der Vulkan aus Weyhers eben: schlagfertig, um keinen Gag verlegen, witzig, frech, eloquent, emotional und spontan. Eben noch zu einer frischen Tütensuppe im Büdchen um die Ecke, beherrscht er Minuten später mit traumwandlerischer Sicherheit und routiniert wie kein Zweiter die Partitur der internationalen Politik, trifft sich auf Augenhöhe mit den Größten der Branche wie, ja, äh, kleinen Moment, grübel, also beispielsweise mit dem Dag und dem Bernd.

Wer am 15. August 2015 in Fulda das Ruder der Macht übernimmt, ist den Bürgern momentan egal. Sie sind kurz vor Weihnachten einfach nur traurig und frösteln schon jetzt. Die meisten haben Rhöner Schafwolle gekauft, um Mützen und Schals zu stricken. Denn, das wusste schon Brecht: „Wenn ein Freund weggeht, muss man die Türe schließen, sonst wird es kalt.“ Vielleicht trägt so ja endlich mal die Eisdecke im Schlossgarten wieder, erstmals seit elf Jahren. (JOCHEN WIELOCH)  +++

HINTERGRUND: „Wielochs wirre Welt" erscheint heute am 58. Freitag in Folge bei OSTHESSEN|NEWS. Jochen Wieloch (38) blickt dabei pointiert, humorvoll und teilweise mit einer gehörigen Portion Ironie auf die Ereignisse, die die Menschen in der Region und im Land bewegen. Der Petersberger kennt sich als selbstständiger Redakteur in den Medien Print, TV und Internet bestens aus, ist Buchautor und als Spezialist für Unterhaltungselektronik gefragter Autor für zahlreiche Verlage, Magazine und Fachzeitschriften. Außerdem berät und betreut der 38-Jährige Unternehmen in allen Fragen der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Neben dem ZDF, 3sat und dem Bayerischen Rundfunk arbeitete Jochen Wieloch unter anderem auch für die Motor Presse in Stuttgart und auto-tv in München. Für osthessen-tv.de stellt der Germanist neuerdings regelmäßig automobile Neuheiten in Filmbeiträgen vor.+++


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