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REGION Die MITTWOCHS-KOLUMNE

WIELOCH schreibt an (11) … die Smartphone-Süchtigen

ZUR PERSON:In „Wieloch schreibt an“ richtet sich Jochen Wieloch (40) ab sofort immer mittwochs in einem persönlichen Brief nicht nur an regionale Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Sport oder Kultur, sondern auch an Menschen des Alltags, die in den Tagen zuvor besonders aufgefallen sind und für positive oder negative Schlagzeilen gesorgt haben. Bei der Kolumne handelt es sich um eine Mischung aus Kommentar und Portraitierung, in der Jochen Wieloch mal sachlich, mal emotional lobt, kritisiert und bei Bedarf auch ordentlich Dampf ablässt. Der Petersberger kennt sich in den Medien Print, TV und Internet bestens aus und ist unter anderem als Spezialist für Unterhaltungs-elektronik gefragter Autor für zahlreiche Verlage, Magazine und Fachzeitschriften. Neben dem ZDF, 3sat und dem Bayerischen Rundfunk arbeitete der Germanist unter anderem auch für die Motor Presse in Stuttgart und auto-tv in München.

09.11.16 - Liebe Smartphone-Süchtige in Fulda,

Sie müssen sich neuerdings fühlen wie Alkoholiker, denen man jeden Tag Freibier serviert: emotional auf Wolke sieben. Ab sofort kommen Sie nämlich an verschiedenen Punkten in der Barockstadt in den Genuss von kostenlosem WLAN. Ein netter Service, gegenüber Touristen eine feine Geste. Doch generell mache ich mir um das Bild unserer Innenstädte Sorgen – egal, ob Fulda, Bad Hersfeld, Hamburg oder München. Passanten mit aufrechtem Blick sterben aus. Und kostenfreies Internet fördert diesen bedenklichen Trend. 

Denn Leute wie Sie glotzen nur noch auf ihre Smartphones. Kurznachrichten, E-Mails, WhatsApp. Sie sind im Dauerstress. Ihre Facebook-Freunde sollen wissen und sehen, wie sich Ihr Akne-Ausschlag entwickelt hat. Ist die Winterjacke bei Amazon günstiger als bei Karstadt? Ihnen ist es völlig egal, ob Sie vor dem Stadtschloss, dem Kanzlerpalais oder dem Vonderau Museum stehen: Sie kriegen nichts mit. Was Sie lockt, ist das WLAN. Nicht Johann Dientzenhofer oder Bonifatius.

Unsere Pest, die Infektionskrankheit der Neuzeit, heißt Smartphone. Sie ist hochansteckend. Egal, ob Schüler, Student, Akademiker oder Handwerker: Die "Smartphonitis" macht vor kaum jemandem Halt. Und sie breitet sich rasend schnell aus. Im Wartezimmer beim Hausarzt, im Frisörsalon oder im Restaurant – nirgends ist man vor Infizierten sicher. Ein Vierertisch beim Italiener: ballaballa statt bella Italia! Hinsetzen. Smartphone raus. Tippen. Bestellen. Tippen. Essen und tippen. Pinkeln und posten – vielleicht noch föhnen: Studien zufolge ist jedem fünften Deutschen das Smartphone schon mal in die Toilette gefallen. Bezahlen. Tippen und raus. Die größte Form der Kommunikation mittlerweile: ein Selfie, also eines dieser Gruppenbilder. Danach taucht jeder wieder ganz schnell in seine Welt ab. Das Foto muss bearbeitet, verfremdet, verschickt, hochgeladen und sonst was werden. Polaroid, du warst so schön!

Liebe Smartphone-Saurier, Sie gehen mir mächtig auf den Wecker. Mit Ihnen am Tisch zu sitzen ist eine Zumutung. Mit mindestens einem Auge schielen Sie permanent aufs Display. Um dann alle paar Sekunden auf der Tastatur rumzufummeln. Mich interessiert nicht, wie die ersten selbstgebackenen Plätzchen vom Stiefsohn der neuen Freundin Ihres Ex-Verlobten aussehen. Ganz nebenbei: Sie sorgen dafür, dass Patienten mit Bandscheibenvorfall und Tennisarm noch länger auf einen Termin warten müssen. Denn Sie belagern unsere Praxen. Orthopäden sind ausgelastet mit Handy-Ellenbogen, iPhone-Schulter und SMS-Daumen. Moderne Leiden, ausgelöst durch die unnatürlichen Körperhaltungen der Smartphone-Jünger. Und auch die Psychologen brauchen sich um Patienten-Nachschub keine Sorgen machen: Phantom-Vibrations-Syndrome (PVS) heißt eine neue Krankheit – die Einbildung, das Mobiltelefon klingelt oder vibriert, obwohl es stumm ist. Was für eine Horrorvorstellung, möglicherweise nicht sofort mitzukriegen, dass die beste Freundin ein Bild vom Schwangerschaftstest ihrer Schäferhündin veröffentlicht hat.

Liebe Smartphone-Sklaven, ich bin mir sicher, Ihnen droht das gleiche Schicksal wie Rauchern: Eines Tages sperrt man Sie in Restaurants in eigene Ecken und in Zügen in separate Abteile. Sie stehen im strömenden Regen vor Kneipen und tippen. Sie kleben sich Facebook-Pflaster auf den Oberschenkel und kauen WhatsApp-Kaugummi, um zumindest die Vorspeise ohne Ihr Smartphone zu überstehen. Ich gehe davon aus, dass Sie meinen Brief nicht bis hier gelesen haben. 2.991 Zeichen – ein Roman in der Welt der Kurznachrichten-Junkies, eine ganze Enzyklopädie. In diesem Sinne: EOM (End of Message)!

Mit herzlichen Grüßen


Ihr Jochen Wieloch

P.S.: Ich sehne mich nach Rauchern. Die waren wenigstens kommunikativ…


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