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Point Alpha-Veteran: "Wir dachten, jeden Moment geht der Dritte Weltkrieg los"
31.03.19 - Am ehemaligen US-Beobachtungsstützpunkt Point Alpha bei Rasdorf standen sich die beiden Machtblöcke im Kalten Krieg bis auf wenige Meter gegenüber. 24 Stunden am Tag wurde der Gegner beobachtet, die Anspannung war so groß, dass die Mannschaft alle zwei Wochen ausgewechselt werden musste. Zum 29. Jahrestag der letzten Grenzpatrouille erklärt der ehemalige Platoon Sergeant Vern Croley, wie Cheeseburger und Cheerleader den Arbeitsalltag versüßten - und wie der Kalte Krieg um ein Haar zum heißen geworden wäre.
Das traditionelle Zeremoniell am Freitagmorgen ließ die Bedeutung des unscheinbaren Camps mitten im Wald wieder aufleben: Bei der "Retreat Ceremony" wurde das amerikanische Sternenbanner von Kadetten der High School des U.S. Department of Defense Education Activity (DODEA) in Wiesbaden unter der Leitung von Colonel Hensley eingeholt und der Point Alpha Stiftung übergeben. Unter den Ehrengästen waren auch Timothy Eydelnant, der seit 2017 das Amt des US-Generalkonsuls für Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen innehat, sowie Brigadegeneral Olaf von Roeder vom Landeskommando Hessen der Bundeswehr. Um die Fackel der Freiheit am geschichtsträchtigen Ort weiterzugeben, waren Schülerinnen und Schüler der Jahnschule Hünfeld, des Philipp-Melanchthon-Gymnasiums Schmalkalden und der Thuringia International School Weimar gekommen. In seiner Rede verdeutlichte Dr. Eberhard Fennel vom Vorstand der Point Alpha Stiftung den Wert der Erinnerung: "Wer die Vergangenheit nicht kennt und nicht weiß, woraus die Gegenwart entstanden ist, kann weder seine eigene Zeit richtig verstehen noch für die Zukunft sinnvoll planen."
Wie genau diese Vergangenheit am "heißesten Punkt im Kalten Krieg" abseits des Zeremoniells ausgesehen hat, das erklärt Platoon Sergeant Vern Croley: Von 1982 bis 1985 war der vierschrötige Soldat aus Alabama im Beobachtungsstützpunkt stationiert, inzwischen lebt er im nahen Rasdorf. West- und ostdeutsche Menschen waren Croley anfangs gleichermaßen fremd: "Ich bin 1976 nach Deutschland gekommen, da hat man 'Sieg Heil', Stacheldraht und Weltkrieg als Assoziationen gehabt. Aber wenn man die Menschen kennengelernt hat, waren die ganz normal. Auch die ostdeutschen Grenzer, soweit wir das aus unserer Position einschätzen konnten: Denen haben wir manchmal Zigaretten auf die Grenzmarkierung gelegt, die haben sich mit einem Peace-Zeichen bedankt. Trotzdem war klar: Wenn der Russe kommt, werden wir hier alle sterben. Darüber gab es keine Illusionen. Wir im Wald wären maximal eine kleine Bremsschwelle für die feindlichen Panzer gewesen. Aber gefühlt haben wir uns wie die Elite-Soldaten: 11th Armored Cavalry Regiment, Blackhorse, die lange Tradition, das wurde uns eingebläut."
Um die komplexen Zusammenhänge und Details im Grenzalltag verstehen und überschauen zu können, erhielten die amerikanischen Soldaten ein umfangreiches Training, bevor sie im Wald-Camp eingesetzt wurden. Feindliche Markierungen, Signale und Codes mussten wie Spuren gelesen werden. Die Anspannung für die Besatzung auf dem Beobachtungsturm Point Alpha, von dem aus mehrere Kilometer Thüringer Grenzland überblickt werden konnten, war täglich enorm: "Es gab ja nicht nur die offizielle Grenze, sondern auch noch die Signaldrähte überall. Wenn die von jemandem berührt wurden, ob Mensch oder Hase, gab es Alarm in der nächsten Führungsstelle. Dann haben die drüben Leuchtraketen losgeschickt, wenn es Nacht war - und Greiftrupps. Manchmal kam dann auch noch der Rhöner Nebel dazu, dann waren wir nur auf unsere Technik angewiesen, um den Überblick zu behalten. Und das Radar war unter solchen Bedingungen nicht wirklich zuverlässig: Eines Morgens brüllt der Radarmann 'Alarm, Alarm' und meldet 50 ostdeutsche Grenzsoldaten direkt am Zaun. Unser Kommandant war kurz davor, die militärische Meldekette nach Fulda und Heidelberg auszulösen. Glücklicherweise hat sich der Nebel aufgelöst - und unten saßen große Hasen. Wir hatten gedacht, jetzt kommt der Dritte Weltkrieg."
40 bis 50 Mann waren auf Point Alpha stationiert. Um die ständige Alarmbereitschaft sicherzustellen, wurde die Mannschaft alle zwei Wochen gewechselt, zwei Platoons waren zusätzlich jederzeit in Fulda einsatzbereit. Während des Kalten Krieges wurde das kleine Camp zur Bühne des weltpolitischen Konflikts: "Wir hatten hier Generäle und Vizepräsidenten wie Bush zu Besuch, da wurde vorher der Rasen mit der Schere beigeschnitten. Außerdem wurde einiges für die Motivation getan: TV-Shows und Kinofilme haben wir bekommen, bevor die überhaupt in Deutschland angelaufen sind, wir hatten hier außerdem ein richtig gutes Fitness-Studio. Wir Soldaten haben auch zur Völkerverständigung beigetragen: Als die Cheerleader der Dallas Cowboys zum Besuch angerückt sind, haben das die Ostdeutschen erfahren. Drüben an der Grenze standen dann etliche Laster, selbst die Russen wollten sich das nicht entgehen lassen. Alles nur wegen den Mädels." (Marius Auth) +++