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Kriminologin Klages zum Fall Meiwes: "Der erschreckend normale Kannibale"
17.04.23 - Es ist der 9. März 2001: Armin Meiwes verabredet sich mit Bernd Brandes aus Berlin, einer Internetbekanntschaft. Vom Bahnhof in Kassel geht es zu Meiwes nach Hause, in den kleinen Ort Wüstefeld (Landkreis Hersfeld-Rotenburg). Zunächst nichts Ungewöhnliches. Doch in dem Fachwerkhaus spielen sich kannibalistische Szenen ab - und das einvernehmlich. Auf Wunsch seines Gastes hin, trennt Meiwes zunächst dessen Geschlechtsteil ab. Bei Kerzenschein dinieren sie. Wenig später tötet der Hausherr das Opfer, zerstückelt den restlichen Körper und verspeist nach und nach den damals 43-jährigen Ingenieur. Im Dezember 2002 kommt die Geschichte ans Licht. Die Polizei findet das portionierte Menschenfleisch in Meiwes Gefriertruhe. Der "Kannibale von Rotenburg" landet letztendlich in der JVA Kassel-Wehlheiden.
20 Jahre nach der Tat reißt der Medienrummel nicht ab. "Das Ganze ist uns so im Gedächtnis geblieben, weil die Menschen nicht nachvollziehen können, dass jemand, der eine einvernehmliche Handlung vollzieht - zwar für uns grausam und schrecklich - tatsächlich fast sein ganzes Leben dann einsitzt", erklärt Kriminologin und Diplom-Pädagogin Petra Klages gegenüber OSTHESSEN|NEWS. Schwerpunktmäßig beschäftigt sie sich mit der Ursachenforschung schwerer delinquenter Entwicklungen von Intensivtätern wie Serienmörder, Vergewaltiger und Kannibalen. "Armin Meiwes ist tatsächlich kein üblicher Fall des kriminellen Kannibalismus, wie wir ihn kennen. Da streiten sich sozusagen die Geister, was ihn betrifft - und auch um das Gerichtsurteil, das gefällt wurde."
Kontroverses Urteil
Der inzwischen 59-Jährige, vom Beruf her Computertechniker, scheut das Licht der Öffentlichkeit. "Letztes Jahr hat er eine Haftprüfung gehabt - er will natürlich unbedingt entlassen werden nach all den Jahren", so Klages. Der "Kannibale von Rotenburg" ist wegen Mordes und Störung der Totenruhe hinter Gittern. "Doch es gibt ganz kontroverse Diskussionen, was das Gerichtsurteil betrifft." Im Grunde sei es Tötung auf Verlangen gewesen. "Es lag schließlich eine Einwilligung des Opfers vor, das ist auch erwiesen aus dem Bildmaterial und den Chatprotokollen", berichtet die Expertin. Das Strafmaß wäre eigentlich maximal fünf Jahre. "Es ist nichts im Vergleich zu dem, was er jetzt absitzt."
Kannibalismus: Wenig erforschtes Gebiet
Deutschlandweit gibt es mehrere tausend Menschen, die sich in die Kannibalismus-Szene einordnen lassen. "Genaue Zahlen gibt es nicht, manche haben mehrere Accounts." Die Datenlage sei schwierig - ein insgesamt noch wenig erforschtes Gebiet. Das Erstaunliche: "Es existieren weitaus mehr Opfer, die geschlachtet werden möchten, als Täter." Allgemein gebe es wenig kannibalistisch orientierte Taten, trotzdem tauchen immer wieder Fälle auf.
Kannibalismus an sich habe es schon in verschiedenen Formen im Laufe der Menschheit gegeben. "Deswegen muss man von ganz unterschiedlichen Motiven ausgehen", sagt Klages. Beispielsweise gebe es da den Kannibalismus aus Mythen und Märchen wie bei Hänsel und Gretel. Aber auch der religiöse oder rituelle Kannibalismus - der Leib Christi beim Abendmahl - komme vor. Der allgemeine Sprachgebrauch ist ebenfalls beeinflusst mit Redewendungen wie "Du siehst zum Anbeißen aus". Der profane Kannibalismus sei hingegen zu Krisen- und Kriegszeiten aufgetreten. "Menschen haben sich gegenseitig verspeist, um einfach überleben zu können." Kannibalismus könne darüber hinaus Ausdruck einer schweren psychischen Störung sein wie Borderline, Schizophrenie oder einer hirnorganischen Störung.
Fall Meiwes: Bindungsprobleme und Störung sexueller Präferenzen
Meiwes tanzt aus der Reihe. "Er ist der erschreckend normale Kannibale", wie Klages feststellt. "Er weist viele Mordmerkmale nicht auf, die einen Mörder normalerweise kennzeichnen." Dennoch habe er sich fast von Beginn an seines Gefängnisaufenthaltes eine Therapie gewünscht. Erst vor einigen Jahren konnte er damit beginnen. "Das hätte schon früher geschehen müssen." Dabei habe Meiwes eine relativ unauffällige Kindheit mit sehr wenigen Traumata gehabt, keine schwere Persönlichkeitsstörung erlitten, sondern lediglich eine Bindungsstörung und eine Störung der sexuellen Präferenzen - einen kannibalistischen Fetischismus.
Sein Vater verließ die Familie, als er neun Jahre alt war. Der Tod seiner Mutter im Jahr 1999 und der seiner Katze seien später ein harter Schlag gewesen. Der Arbeitsplatzverlust verstärkte dieses Gefühl. Die emotionalen und existenziellen Probleme hätten ihn getriggert und die Fantasien gesteigert. "Das waren auslösende Faktoren, die den Boden für sein späteres Handeln geebnet haben. Er wollte jemanden für immer in sich behalten, niemals mehr verlassen werden", so die Kriminologin.
Exempel statuiert
Klages hat mit dem Inhaftierten Jahre lang zusammengearbeitet. Er wirkte in ihrem Buch "Serienmord und Kannibalismus in Deutschland: Fallstudien, Psychologie, Profiling" mit. In Kurzgeschichten beschreibt er, was kannibalistische Akte bei ihm auslösten. Auf persönlicher Ebene beschreibt Klages den 59-Jährigen als umgänglich: "Er ist ein relativ unauffälliger, sehr freundlicher und höflicher Mensch." Der Kriminologin scheint es, als sei mit ihm ein Exempel statuiert worden. "Er hat ungefähr 20 Kilogramm vom Menschenfleisch gegessen - das ist für uns undenkbar und unfassbar. Ein Tabu-Thema, das mit Ekel verbunden ist. Für viele bleibt es nur ein Fetisch, eine Fantasie - der Schritt zur Tat wird eben nicht gewagt", konstatiert Klages. (mkr) +++