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Die Dritte Welle läuft aus. Nun hoffen wir auf den Sommer, der zumindest an diesem Wochenende - wie hier am Chiemsee - ein Gastspiel gibt und vor allem auf die gute und nachhaltige Wirkung der Impfstoffe. - Foto: Hendrik Urbin / Carina JIrsch

REGION Gast-Kolumne von Dr. med. Thomas Menzel

Einschätzung zur aktuellen Corona-Entwicklung: Alles wird gut!

ZUR PERSON DR. THOMAS MENZEL Priv.-Doz. Dr. med. Thomas P. Menzel (58) ist Facharzt für Innere Medizin mit den Schwerpunkten Gastroenterologie und Hämatologie/ internistische Onkologie sowie Zusatzqualifikationen als ärztlicher Qualitätsmanager und Diplom-Gesundheitsökonom. Seit Mai 2011 ist er Sprecher des Vorstands der Klinikum Fulda gAG.

31.05.21 - Die Dritte Welle läuft aus und eine Vierte ist nicht in Sicht. Die Daten sprechen für sich:  Die Zahl der festgestellten Neuinfektionen mit dem Corona-Virus sinkt von Tag zu Tag, gestern waren es 5.426, heute sind es 3.852. Die bundesweite 7-Tages-Inzidenz ist auf 35,2 gefallen und auch der R-Wert, der angibt, wie viele weitere Menschen eine infizierte Person ansteckt, bewegt sich seit bald zwei Wochen unter der wichtigen Marke von 1, am Samstag lag er bei 0,75.
 
Die aktuellen Zahlen gleichen denen aus dem Oktober 2020. Damals stiegen die Werte dann allerdings steil an und die Zweite Welle begann. Die kalte Jahreszeit stand bevor, in der wir uns überwiegend drinnen aufhalten. Hinzu kam B.1.1.7, die deutlich ansteckendere Variante. Das hat die Übertragung des Virus beflügelt. Nun hoffen wir auf den Sommer, der zumindest an diesem Wochenende ein Gastspiel gibt und vor allem auf die gute und nachhaltige Wirkung der Impfstoffe, die in ihrer Wirksamkeit und Verträglichkeit alle Erwartungen übertroffen haben.
 

Impfen wirkt


Mehr als 40 Prozent der Deutschen haben bis Ende Mai mindestens eine Impfdosis erhalten. ...

Mehr als 40 Prozent der Deutschen haben bis Ende Mai mindestens eine Impfdosis erhalten. Damit haben wir nicht nur erheblich aufgeholt – in Europa liegen wir jetzt in der Spitzengruppe – sondern auch die selbst gesteckten Ziele mittlerweile übertroffen. Und es überrascht nicht wirklich, dass wir in Deutschland nach der harschen Kritik zu Beginn der Impfkampagne jetzt die offensichtlichen Erfolge offenbar als selbstverständlich hinnehmen. Freude, Dank und Anerkennung wären hier auch einmal angebracht und könnten helfen, besser durch die schwere Zeit zu kommen.
 
Wir alle freuen uns auf einen unbeschwerten Sommer. Doch die Zeiten sind noch alles andere als unbeschwert. Die Fortschritte im Umgang mit der Pandemie sind zwar unverkennbar, und die Ausgangslage, von der aus wir durch den Sommer in den kommenden Herbst gehen werden, ist fundamental anders als vor einem Jahr. Aber COVID-19 ist längst noch nicht Geschichte.
 

Krankenhäuser können noch keine Entwarnung geben


In den Krankenhäusern und auf unseren Intensivstationen spüren wir langsam eine leichte Entspannung. Ja, die Dritte Welle hat uns gefordert, aber nicht überfordert. Doch noch immer prägt die Pandemie den Alltag in den Kliniken. Die COVID-Patienten sind jünger als im vorigen Herbst und Winter, denn die Impfung schützt die alten Menschen unterdessen wirkungsvoll, und die jüngeren erkranken ebenso schwer wie zuvor die älteren, benötigen aber länger Hilfe wegen der akuten Erkrankung und der nicht absehbaren Folgeerkrankungen.
 

In den Krankenhäusern und auf unseren Intensivstationen spüren wir langsam eine ...

Diese Patienten beanspruchen Kapazitäten, die ohne Corona für andere Patienten zur Verfügung stünden. Es wird noch eine Weile dauern, bis sich der Klinikbetrieb wieder normalisiert haben wird. Indes nehmen Krebsleiden und chronische Erkrankungen darauf keine Rücksicht. Die Krankenhäuser müssten eigentlich - nach über einen Jahr in der Pandemie - voll belegt sein mit so genannten Non-COVID-Patienten. Sind sie aber nicht. Stattdessen verzeichnen wir einen nachhaltigen Rückgang der Krankenhausfälle um fast 15 Prozent. Warum das so ist, ist nicht ganz einfach zu erklären. In einer Untersuchung im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) kommen die Professoren Augurzky und Busse zu dem Schluss, dass über alle Diagnosegruppen Rückgänge bei den "dringenden" Fällen wesentlich weniger ausgeprägt waren als bei den "weniger dringenden" oder "vermeidbaren". Insbesondere bei den Fällen, die auch ambulant behandelt werden können, zeigt sich demnach ein bleibender Rückgang.

Die Autoren schließen daraus, dass das Verhalten der Patientinnen und Patienten, die aus Sorge vor einer COVID-Infektion nicht zum Arzt oder ins Krankenhaus gekommen sind, für den Rückgang der Behandlungsfälle eine deutlich größere Rolle gespielt hat, als die aktive Absage von Behandlungen durch die Krankenhäuser. Die damit im Zusammenhang stehenden langfristigen Auswirkungen im Hinblick auf den Rückgang bestimmter Leistungsspektren seien derzeit nicht absehbar.

Personal auf den Intensivstationen nach wie vor stark beansprucht


Klar ist dagegen, dass das Personal auf den Intensivstationen seit mehr als einem Jahr noch stärker beansprucht wird als zuvor. Das zeigt Wirkung: Selbst wenn nur jeder sechste Mitarbeiter – wie aktuelle Befragungen nahelegen – wegen der starken Belastung ausscheiden sollte – und wir sprechen hier über hochqualifiziertes Personal, dem auf dem Arbeitsmarkt die Türen weit offen stehen, – dann brechen routinierte Teams auseinander, wie Intensivmediziner warnen, und die Leistungsspitze unserer Maximalversorgung kollabiert. Wir sollten uns ernsthafte Gedanken machen, wie wir dies verhindern können.
 

Wie es weiter geht ...


Wir wissen, dass das Virus mutiert, aber wir wissen nicht, ob es im in nächster Zeit oder kommenden Herbst gefährlicher und ansteckender werden wird. Eine Vierte Welle ist zwar nicht in Sicht, aber nach wie vor auch nicht ausgeschlossen.

In den letzten Monaten haben wir am Klinikum Fulda die eingeschränkten Besuchsregelungen ...

Wir haben also allen Grund, weiterhin Vorsicht walten zu lassen. Ganz besonders in den Krankenhäusern, auch wenn wir großes Verständnis für das berechtige Interesse der Menschen haben, ihre Angehörigen und Freunde wieder im Krankenhaus besuchen zu dürfen. In den letzten Monaten haben wir am Klinikum Fulda die eingeschränkten Besuchsregelungen mit großem Verantwortungsbewusstsein umgesetzt und mit Umsicht und Fingerspritzengefühl Ausnahmen - beispielsweise für werdende Väter, Eltern von Kindern in der Kinderklinik sowie im Fall von Besuchen auf den Intensiv- und den Palliativstationen – ermöglicht. Damit haben wir einerseits den bestmöglichen Patientenschutz sichergestellt und anderseits den Wunsch nach Begegnung und Begleitung angemessen berücksichtigt. Das werden wir auch weiterhin versuchen. Aus der besonderen Verantwortung, die wir für unsere Patientinnen und Patienten sowie auch für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tragen, werden wir die bewährten Sicherheitsmaßnahmen aufrechterhalten und das allgemeine Besuchsverbot zunächst aufrechterhalten. 
 

Die richtigen Fragen stellen


Wir können aus dem bisher erlebten lernen – für die Akutversorgung kranker Menschen, für die Optimierung der Impfstrategie und für die Prävention einer neuen Welle.

Unser Gast-Kolumnist Dr. Thomas Menzel.

Dazu sollten wir uns die eine oder andere Frage stellen:

(1) Wie haben sich bestimmte Diagnose- und Behandlungsstrategien bewährt?
(2) Gibt es lohende Best-Practice-Beispiele für die lokale, regionale, überregionale und internationale Zusammenarbeit im Umgang mit der Pandemie?
(3) Welche Impfstrategie hat sich bewährt – von der Beschaffung der Impfstoffe über ihre Verteilung bis hin zur Verabreichung?
(4) Was wissen wir über die Verbreitung des Virus in der Bevölkerung? Welche Gruppen tragen mehr, und welche weniger zur Verbreitung bei?

Diese Fragen sollten wir nüchtern und ohne falsche Rücksichtnahme klären. Wir benötigen valide, evidenzbasierte Antworten, die auf Fakten und nicht auf Mutmaßungen oder gar Vorurteilen gründen. Warum zum Beispiel war die Inzidenz in Hessen über lange Zeit in Offenbach sehr hoch, aber auch im Landkreis Fulda? Warum ist oder war sie in Sachsen und Thüringen so hoch? Was machen die Menschen in Münster und Soest anders als in Hamm, Hagen oder Bielefeld? In Münster hatten wir häufig eine Inzidenz von etwa 20, während sie in Hagen um den Faktor zehn größer war. Wo stecken wir uns eigentlich an? Im Bus, in der Schule oder im Supermarkt? Welche Urlauber brachten im vorigen Sommer aus welchen Regionen das Virus mit?
 

Blick auf den Herbst


Insbesondere zur Infektiosität von SARS-CoV-2 gibt eine aktuell im Wissenschaftsmagazin ...

Und mit Blick auf den Herbst müssen wir einen Konsens finden, wie wir eine möglicherweise drohende Vierte Welle um jeden Preis vermeiden: Wie hart und ehrlich müssen wir in einen weiteren Lockdown gehen, wenn bestimmte Kenzahlen eine Ausbreitung des Virus anzeigen sollten?
 
Auf einige dieser Fragen sind bereits erste Antworten gefunden. Insbesondere zur Infektiosität von SARS-CoV-2 gibt eine aktuell im Wissenschaftsmagazin Science veröffentliche Studie der Arbeitsgruppe um Prof. Christian Drosten von der Berliner Charité detailliert und kompetent Auskunft. Die Forscher konnten beispielsweise zeigen, dass die höchste Ansteckungsgefahr bereits drei Tage vor Beginn der Symptome besteht – was die Übertragung des Virus stark bevorteilt - und dass hohe Viruslasten am Beginn der Erkrankung häufig mit schweren Verläufen in Zusammenhang stehen. 
 

Wissenschaft hat an Bedeutung gewonnen


Es ist schon bemerkenswert wie schnell in dieser Pandemie die Wissenschaft nicht nur Erkenntnisse gewinnen, sondern auch konkrete Maßnahmen auf den Weg bringen konnte. Damit hat sie ihre Bedeutung in unserer modernen Welt eindrücklich gesteigert. Die sensationell rasche Entwicklung der erfolgreichen modernen Impfstoffe fordert ein Überdenken unserer Haltung zur Gentechnologie geradezu heraus. Das Tor zu einem neuen Schub in den Life-Sciences ist aufgestoßen, und eines gar nicht mehr so fernen Tages werden Impfungen gegen ganz andere Erkrankungen möglich sein.
 
Auch zur Beantwortung der noch offenen Fragen benötigen wir die Hilfe der Wissenschaften – und nicht nur der Medizin, der Virologie und der Epidemiologie. Physiker und Mathematiker können hervorragend modellieren und simulieren. Psychologen und Soziologen erklären uns, wie sich Menschen als Individuum, als Gruppe sowie in Organisationen und in bestimmten kulturellen Zusammenhängen verhalten.
 
Dabei sollte zweierlei von vornherein klar sein:

Zur Beantwortung der noch offenen Fragen benötigen wir die Hilfe der Wissenschaften ...

Zum einen: Es gibt Naturgesetze mit uneingeschränkter Gültigkeit – auch wenn wir noch nicht alle erkannt haben, und wir uns noch nicht alle Zusammenhänge in der Natur erklären können. Aber typischerweise fällt auf unserem Planeten ein Hammer, wenn er uns aus den Händen gleitet, zu Boden. Das können wir in Frage stellen oder abstreiten. Aber es bleibt wahr. Wer solche Wahrheiten in Frage gestellt, schließt sich von jeder vernunftgeleiteten Debatte aus, und er wird in Zeiten einer Pandemie nicht nur für sich, sondern vor allem auch für andere zur Lebens-Gefahr, wenn er die Existenz des Virus oder seine Übertragungswege leugnet.
 
Zum anderen: Wir werden die Zukunft niemals präzise vorhersagen können. Wir entwerfen Szenarien und wagen Prognosen. Wir treffen begründbare und begründete Annahmen, um aufgrund der Wirkungszusammenhänge, die wir kennen, auf "die eine" Zukunft oder eine mögliche andere Zukunft zu schließen, deren Eintreten wir unter bestimmten Annahmen zu erwarten haben werden. Aber wir werden wohl niemals alle Annahmen und Wirkungszusammenhänge kennen und diese richtig miteinander zu verknüpfen verstehen.
 

Prognosen und Modelle sind wichtig


Die Prognosen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und ...

Bei allem Optimismus: COVID-19 ist längst noch nicht Geschichte.

Die Prognosen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) e.V. haben sich über die Zeit als sehr treffsicher erwiesen. Die DIVI hat die Frage, welche Zahl an Intensivpatienten bei welcher Inzidenz und welchem Grad des Lockdowns in welchem Zeitraum zu erwarten sein wird, stets mit größter Treffsicherheit vorhergesagt.

Wir können also bestimmte Entwicklungen – auch in der aktuellen Pandemie – schon sehr gut voraussagen. Wer Naturgesetze nicht kennt oder gar leugnet, mag dies als Panikmache abtun.
 
Doch Prognosen bleiben Prognosen. Sie müssen in ihrer Dramatik nicht eintreten, aber sie können auch übertroffen werden. Sich dies stets klarzumachen, gehört zur Ehrlichkeit, ohne die eine vernünftige Debatte nie zu führen ist. Die Wissenschaftler der DIVI und andere haben mit ihren Szenarien, Modellen und Prognosen, nicht Panik geschürt. Sie haben unter zuvor definierten Bedingungen nach begründeten, transparenten Regeln Vorhersagen über mögliche künftige Entwicklungen getroffen. Wenn darunter Vorhersagen waren, die so furchteinflößend waren, dass wir unser Verhalten daraufhin geändert haben, war nicht die Vorhersage falsch, sondern wir waren klug genug, daraus zu lernen.
 
Das sollten wir zukünftig noch stärker beherzigen – auch für die anderen großen Herausforderungen, vor denen die Menschheit steht. Dann wird wahrscheinlich auch nicht alles gut….aber vieles besser. (Thomas P. Menzel) +++


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