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Die Corona-Pandemie: Lockdown oder Lockerung?
19.04.21 - Ob es nun wirklich so ist, dass die Menschen in Deutschland der Schutzmaßnahmen überdrüssig sind und mehrheitlich für sofortige Lockerungen sind, untersuchen regelmäßig die Meinungsforscher. Die aktuellen Ergebnisse sind durchaus aufschlussreich: Nur noch ein gutes Drittel der Deutschen war Anfang April laut einer Umfrage der ARD (Deutschlandtrend) zufrieden mit der Bundesregierung. Vor einem Jahr zu Beginn des ersten Lockdowns waren es noch zwei Drittel.
Interessant dabei ist, dass die Unzufriedenheit nicht wegen der ausbleibenden Lockerungen gewachsen ist, sondern weil sich eine Mehrheit mehr Schutz wünscht: Die aktuellen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie reichen 48 Prozent der Befragten nicht. Das sind 16 Prozentpunkte mehr als Mitte März und 28 Punkte mehr als Anfang März. Derzeit sind nur noch 24 Prozent der Meinung, dass die aktuell geltenden Maßnahmen angemessen sind, was einem Minus von 14 Prozentpunkten zu Mitte März und einem von 23 zu Anfang März entspricht. Ebenfalls 24 Prozent der Befragten sagen, die Corona-Maßnahmen gehen zu weit (minus 1 zu Mitte März, minus 6 zu Anfang März). Eine deutliche Mehrheit der Befragten ist also für härtere Maßnahmen.
Und auch die von der Bundesregierung geplante Einführung einer nächtlichen Ausgangssperre in Gebieten mit hohen Corona-Infektionszahlen findet eine Mehrheit von 51 Prozent der Bevölkerung richtig, 46 Prozent dagegen falsch. Die Antworten korrelieren mit der politischen Präferenz: Anhänger von CDU/CSU, SPD, Grünen und Linken sind für eine Ausgangssperre, die Anhänger von FDP und AfD dagegen. Soviel zu den Meinungen.
Die Fakten
Die Fakten sprechen für sich: knapp 80.000 Corona-Tote, deren wir ja heute gedenken. Und weiter: 23.804 Neuinfektionen mit COVID-19 wurden dem Robert-Koch-Institut am Samstag (17. April) gemeldet. Das liegt bald in dem Bereich, den wir am Gipfel der zweiten Welle im Dezember 2020 erreicht hatten. Nun sind wir aber erst in der Anlaufphase der dritten Welle, deren Höhepunkt wir wahrscheinlich noch lange nicht erreicht haben.
Ähnliches gilt für die Zahl der intensivmedizinisch behandelten Patienten: 4.786 COVID-Patienten wurden nach Angaben der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) e.V. am 17. April intensivmedizinisch behandelt und belegen damit 21 Prozent der für COVID-Patienten geeigneten Intensivbetten. 2.662 der COVID-Patienten werden künstlich beatmet. Nur 1.168 Betten für die invasive Beatmung von COVID-Patienten waren nach Angaben der DIVI noch frei. Die Plätze an der künstliche Lunge (ECMO) sind in Deutschland fast alle belegt, durch COVID-Patienten.
Vom Gipfelwert der zweiten Welle, den wir mit 5.723 intensivmedizinisch behandelten COVID-Patienten am 4. Januar erreicht hatten, trennen uns vermutlich nur wenige Tage.
Die Prognosen der DIVI, die sich als sehr zuverlässig erwiesen haben, weisen auf bis zu 8.000 Patienten hin, die schon Anfang Mai intensivmedizinisch zu behandeln sein könnten, wenn es zwischenzeitlich – durch geeignete Maßnahmen - nicht doch zu einem erheblichen Rückgang der Neuinfektionen kommen sollte.
Intensivstationen an der Belastungsgrenze
Werden die Behandlungskapazitäten auf den Intensivstationen dann noch reichen? Es sind nicht die Betten und nicht so sehr die technischen Kapazitäten, die unsere Möglichkeiten limitieren, sondern es die Verfügbarkeit des hochqualifizierten Personals in der Intensivpflege. Von diesen Fachpflegekräften gab es schon vor Corona zu wenige, und auch die Ärztinnen und Ärzte mit Intensiverfahrung sind knapp. Hinzukommt, dass nach über einem Jahr im Pandemie-Ausnahmezustand, alle die auf den Intensiv-, den Intermediate-Care- und den COVID-Normalstationen arbeiten, diesen Ausnahmezustand körperlich und emotional deutlich verspüren.
Ein Patient, dessen Blut mit der ECMO außerhalb des Körpers mit Sauerstoff angereichert werden muss, weil seine geschädigte Lunge dies nicht mehr schafft, bindet bis zu sechs Intensivpflegekräfte und Ärzte.
Das Gesundheitswesen entlasten
Dennoch sind wir in den Krankenhäusern aufgrund der bisherigen Erfahrungen in der Pandemie nach wie vor zuversichtlich, dass wir auch die dritte Welle irgendwie meistern werden. Wenn wir die dafür notwendige Unterstützung aus der Bevölkerung bekommen. Und damit meinen wir nicht die Beifalls-Bekundungen und die vielen Aufmerksamkeiten, die uns insbesondere in der ersten Welle zuteil geworden sind, sondern den aktiven Beitrag aller: Reduziert die Kontakte und beachtet die Regeln. Und lasst Euch impfen. Dann könnte es schon im Sommer besser werden mit der Pandemie und das Leben wieder lebenswerter.
Doch obschon die sehr alten Menschen heute dank der Impfung geschützt sind, werden auch weiterhin Menschen an COVID-19 sterben. In der zweiten Welle, noch bevor die über 80-Jährigen durch Impfungen geschützt waren und die Intensivstationen belegten, starb die Hälfte derer, die invasiv beatmet wurden. Heute sind die COVID-Patienten auf den Intensivstationen im Durchschnitt 56 Jahre alt, und auch von ihnen wird es trotz aller Bemühungen wohl mehr als jeder Dritte nicht überleben.
Im Durchschnitt der vergangenen sieben Tage starben in Deutschland täglich 239 Menschen an COVID. Das wären 1.673 in der Woche und etwa 7.000 in einem Monat. Es sind weniger als noch am Gipfel der zweiten Welle, als sogar mehr als 1.200 Menschen an einem Tag starben.
Es stimmt, die Sterblichkeit in Deutschland liegt derzeit nicht über dem Niveau der Vorjahre. In jedem Jahr versterben bei uns etwas 950.00 Menschen. An jedem beliebigen Tag des Jahres 2.600. Das Ausbleiben der Grippewelle und die deutliche Reduktion anderer Infektionserkrankungen haben sehr wahrscheinlich dazu geführt, dass insbesondere im März weniger Menschen verstorben sind als im langjährigen Mittel.
Aber die Zahl der verlorenen Lebensjahre durch COVID wird in jedem Einzelfall größer sein als damals, wenn die Sterbenden jünger sein werden. Und die Zahl der Todesfälle wird mit der der Neuinfektionen steigen. Die Inzidenz-Kurve, die die Zahl der Neuinfektionen je 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen abbildet, ist steil angestiegen, und sie wird – wenn wir nichts unternehmen - weiter steigen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die ansteckendere Virusvariante B1.1.7, die im Dezember zuerst in Großbritannien nachgewiesen worden war, mittlerweile für fast alle Corona-Fälle hierzulande verantwortlich ist.
All das war bekannt und zumindest absehbar. Schon Weihnachten war klar, dass die britische Mutante auch hierzulande die führende werden wird. Seit Monaten ist bekannt und absehbar, dass wir in die dritte Welle gehen werden. Schon vor einem Monat stellte die DIVI die Prognosen vor, wie stark die Intensivstationen im Mai belastet sein werden. Wir müssen nicht warten, bis die Messdelle, die regelmäßig an Wochenenden und erst recht nach großen Feiertagen wie Osten klafft, wieder geschlossen ist, um die Wirklichkeit erkennen zu können. Und es ist ein Trugschluss, dass mehr Testungen die Inzidenz nach oben treiben würden.
Aber wer nimmt all diese Fakten zur Kenntnis? Und vor allem: Wer zieht daraus Konsequenzen? Für jene, die das Leid der Kranken und den professionell geführten Kampf um deren Leben auf einer Intensivstation täglich erleben, erscheinen all die gegenwärtig diskutierten und partiell implementierten Szenarien für die Rückkehr zu einem Leben ohne Rücksicht auf das Leben surreal und schlicht unethisch.
Wenn der Bund nun seine Notbremse durchsetzen wird, sind wir nicht weiter, als es die Ministerpräsidenten der Bundeskanzlerin schon vor Wochen versprochen hatten, um sich allerdings wenige Tage später Ausnahmen von der eigenen Verabredung zu genehmigen.
Klare und einheitliche Regeln
Wir benötigen einfache, klare Regeln, die alle verstehen und deshalb auch (fast) alle einhalten wollen und können, um das öffentliche Leben runterzufahren. Denn weiterhin gilt, dass das Virus in kleinsten Partikeln als Aerosol durch die Luft – vor allem in schlecht gelüfteten Innenräumen – vom Menschen auf den Menschen übertragen wird. Wir müssen also Menschen und die Nähe zu ihnen meiden. Je kürzer die Distanz, je länger die Dauer der Zusammenkunft und je geringer der Luftaustausch in einem Raum, desto größer ist die Ansteckungsgefahr.
Wenn die Zusammenkunft kleiner Gruppen von bis zu zehn Menschen ausgeschlossen wird, reduziert das die Verbreitung des Virus um 42 Prozent. Die Schließung von Hochschulen und Schulen mindert die Ausbreitung um 38 Prozent. Die nächtlichen Ausgangssperren haben zwar nur einen Effekt von 18 Prozent. Aber sie reduzieren Mobilität und sind vor allem dann wirkungsvoll, wenn sie die privaten Zusammenkünfte kleiner Gruppen von Menschen unterbinden, die in räumlicher Enge bei schlechter Lüftung einen geselligen Abend miteinander verbringen.
Schnelltests überschätzt
Und auch das noch: Nein, die Antigen-Schnelltests, die derzeit überall durchgeführt werden, sind leider nicht das Wunderwerkzeug, das sichere Öffnungen einfach möglich macht. Die sinnvollste und aussagekräftigste Anwendung der Schnelltests sind die Abstriche bei Menschen, die Erkältungs-Symptome aufweisen. Wenn der Test nicht positiv wird, dann ist es mit hoher Wahrscheinlichkeit kein COVID, sondern eine einfache Erkältung.
Der Einsatz bei Menschen, die keine Symptome haben und die sich "freitesten" wollen, um beispielsweise zur Arbeit, zur Schule oder auch irgendwann mal wieder ins Kino oder in ein Geschäft zu gehen, ist dagegen nicht so zuverlässig. Das liegt vor allem daran, dass die Antigen-Schnelltests in der frühen Phase der Erkrankung, in der die frisch Erkrankten noch keine Symptome aufweisen aber schon andere Menschen anstecken können, nicht so gut sind wie angenommen. Darum ist es wichtig, die Tests in diesem Setting - zum Beispiel in den Schulen – regelmäßig zu wiederholen, mindestens zwei oder drei Mal in der Woche. Dann werden die Positiven im Verlauf erfasst, und die Cluster können rasch identifiziert werden. Die weitere Verbreitung des Virus kann dann durch Quarantänemaßnahmen verhindert werden.
Es wird noch einige Monate dauern, bis für die Erwachsenen unter uns - je nach Alter - ein hoffentlich wirksamer Impfschutz aufgebaut sein wird, aber es ist absehbar, dass genau das erreicht werden wird.
Impfen ist die beste Strategie
Wenn wir bis zum Durchbruch beim Impfen unsere Mobilität einschränken, retten wir Tausende Leben und noch mehr Menschen vor einer schweren Erkrankung mit unabsehbaren Folgen. Indem wir uns impfen lassen, nehmen wir Verantwortung für uns und andere wahr. Und wenn in der gegenwärtigen Phase Menschen über 60 Jahre einen bestimmten Impfstoff (den von AstraZeneca, Vaxzevria) ablehnen, der für diese Altersgruppe zugelassen ist, dann nehmen sie einem jüngeren Menschen einen anderen Impfstoff (den von Biontech/Pfizer, Comirnaty oder den von Moderna) weg, wie es der Virologe Christian Drosten sehr richtig formuliert hat. Solidarität aber kann nie einseitig sein. Vor allem die Jüngeren haben in dieser Krise bisher harte Opfer gebracht und werden diese noch weiter bringen.
Der AstraZeneca-Impfstoff schützt und ist gut verträglich. Seit dem vergangenen Freitag darf sich jeder in Hessen, der über 60 Jahre alt ist, unabhängig von jeder weiteren Priorisierung einen Termin zur Impfung holen. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, und ich kann nur hoffen, dass sich viele dafür entscheiden und den Jüngeren die anderen Impfstoffe überlassen. Das Risiko durch eine Impfung mit Vaxzevria eine Thrombose, also ein Blutgerinnsel, zu entwickeln, liegt für die unter 60-jährigen nach derzeitigem Stand bei etwa 1:100.000, bei den älteren wohl noch weit darunter. Das Risiko in Deutschland, bei einem Autounfall zu versterben, ist bald acht Mal so hoch.
Wir sollten alles daran setzten, möglichst viele Menschen in möglichst kurzer Zeit zu impfen. Neben den Impfzentren leisten die Hausarztpraxen dabei einen wichtigen Beitrag. (Thomas P. Menzel) +++