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Corona-Krise: Helfen Sie uns in den Kliniken, damit wir für Sie da sein können!
09.11.20 - Corona ist zurück, mit voller Wucht und deutlich mehr Infizierten als im Frühjahr, und mit vielen schwer Erkrankten, die ein Bett im Krankenhaus brauchen. In ganz Europa schießen die Zahlen nach oben, in unseren Nachbarländern droht bereits die Überlastung der Gesundheitssysteme.
Derweil ist der Wahlkrimi der vergangenen Tage in den USA, der ein wenig mediale Abwechslung brachte und für manchen eine willkommene und gesunde Ablenkung von der Allgegenwart der Pandemie in der öffentlichen Debatte war, zu Ende gegangen.
Bezeichnenderweise geht es in beiden Szenarien – bei der Wahl und der Seuche - um Zahlen.
Zahlen als Faktum, als Ausdruck von Objektivität und Eindeutigkeit. Und in diesen Wochen erkennen wir: Dieses Faktum ist gar nicht so eindeutig, wie es auf den ersten Blick erscheint. Es muss "gelesen" und "gedeutet" werden, und diese Interpretationen sind jedoch selbst unter Fachleuten umstritten. Die Gewissheit gerät dabei ins Wanken, und das verstärkt die Unsicherheit. Doch so, wie am Ende der Wahlen nach allen Interpretationen und Wirren ein Ergebnis steht, so werden wir uns auch während der Pandemie mit Geduld und Expertise weiterhin mit den immer neuen Fakten auseinandersetzen und zu neuen Erkenntnissen gelangen. Die Wahrheit schält sich heraus.
Indes kommen täglich neue Zahlen, neue Fakten. Auch am Wochenende: Die Gesundheitsämter in Deutschland haben dem Robert-Koch-Institut (RKI) 23.399 neue Corona-Infektionen binnen 24 Stunden gemeldet. Dies geht aus Angaben des RKI vom Samstagmorgen hervor. Erst am Freitag hatte die Zahl der Neuinfektionen erstmals die Marke von 20.000 überschritten. Insgesamt haben sich dem RKI zufolge seit Beginn der Pandemie bundesweit 642.488 Menschen mit SARS-CoV-2 infiziert (Stand: 07. 11., 00.00 Uhr). Die Zahl der Todesfälle im Zusammenhang mit dem Virus stieg bis Freitag um 130 auf insgesamt 11.226. Am Sonntag liegen die Zahlen – wie gewohnt – etwas niedriger, weil am Wochenende die Behörden ihre Daten nur eingeschränkt weiterleiten.
Wie sind diese Zahlen zu deuten? Obwohl wir einen "Lockdown-Light" haben, vervielfältigt sich das Virus scheinbar unaufhaltsam. Das ist aber nicht überraschend, denn die Infektionen, die heute gemeldet werden, haben sich vor fünf bis zehn Tagen ereignet - vor dem Lockdown. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Das ist alles in allem eine alarmierende Entwicklung, aber sie war und ist absehbar. Denn bis eine Infektion zu Symptomen führt, bis die Symptome einen Arztbesuch oder einen Test auslösen und bis sie sich in einem von fünf Fällen wiederum zu einem "schweren Verlauf" verschlechtern, vergehen einige Tage und Wochen. Bis eine Infektion zu einem Fall auf der Intensivstation wird, vergehen zwei bis vier Wochen.
Wenn wir also vor einer Woche in einen "Lockdown-Light" gegangen sind, können wir nach dieser kurzen Zeit noch keinen Rückgang der objektiven Fallzahl erwarten. Diese wird noch weiter steigen. Zugleich aber ist der R-Wert zurückgegangen, jene Zahl also, mit der gemessen wird, wie viele weitere Menschen ein infizierter Mensch ansteckt. Dieser R-Wert, der in der vergangenen Woche bei fast 1,5 gelegen hatte, ist bis zum Wochenende auf weniger als 1 gesunken. Das heißt: die Verbreitung des Virus hat sich verlangsamt. Ein Infizierter steckt weniger als einen anderen Menschen an. Wurden zuvor aus zehn Infizierten in der nächsten Infektionsstufe 15 Infizierte, stecken zehn Infizierte nur noch zehn weitere Menschen an.
Wobei dieses Modell die Weiterverbreitung lediglich statistisch beschreibt. Das SARS-CoV-2 Virus verbreitet sich nicht so gleichmäßig wie im obigen Beispiel. Tatsächlich sind es nur 20 Prozent der Infizierten, die Superspreader, die für 80 Prozent der Neu-Infektionen verantwortlich sind. Und auch der R-Wert von heute ist nur eine Momentaufnahme der letzten vier beziehungsweise sieben Tage und bestimmt kein Grund, uns in falscher Sicherheit zu wiegen. Wenn aber der R-Wert bei einer zunächst weiter steigenden Zahl an Neuinfektionen für längere Zeit kleiner als 1 bleiben oder sogar weiter sinken sollte, dann wäre das ein Erfolg. Wenn er mit dem Beginn der Restriktionen zu Monatsbeginn in Verbindung zu bringen wäre, dann wäre das ein Beleg dafür, dass die Einschränkungen des öffentlichen Lebens die erhoffte Wirkung entfalten. Aber das alles wissen wir noch nicht. Wir müssen den Verlauf der Pandemie weiter verfolgen und zur Anpassung der Strategie bereit sein, sowohl was die einzelnen Maßnahmen als auch deren Dauer betrifft.
Über diese Maßnahmen sollte größtmögliche Einigkeit bestehen, da sie nur dann erfolgreich sein werden. Umso irritierender sind die Stimmen – auch aus der Ärzteschaft – die das aktuelle Vorgehen kritisieren und die Maßnahmen in Frage stellen. Zu suggerieren, die Pandemie sei doch gar nicht so dramatisch und mit einer Fokussierung der Ressourcen auf den spezifischen Schutz der Bevölkerungsgruppen, die ein hohes Risiko für schwere Krankheitsverläufe haben, ließe sich die Pandemie schon bewältigen, sind falsch und gefährlich.
Zu den Risikogruppen gehören nicht nur die alten Menschen in den Seniorenheimen, sondern auch viele Jüngere die mitten im Leben stehen und aufgrund bestimmter Vorerkrankungen gefährdet sind. Nach Hochrechnungen des wissenschaftlichen Instituts der AOK gehören mehr als 20 Prozent der Bevölkerung zur Risikogruppe, mithin jeder Fünfte.
Während des Sommers – als die Zahlen noch niedrig waren – haben wir viele unnötige Diskussionen geführt. Zum Beispiel darüber, ob das Virus nun wirklich gefährlich sei oder eher doch nicht, ob die Pandemie schon von alleine auslaufen würde, oder die PCR-Tests vielleicht doch nicht so gut seien wie behauptet. Die Wissenschaftlerin Prof. Dr. Melanie Brinkmann, Virologin am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, hat dazu in der Bundespressekonferenz deutliche Wort gefunden: "Ich bin es leid. Wir haben den Sommer damit verschwendet, darüber zu diskutieren, wie gefährlich das Virus eigentlich ist. Wir müssen uns klarmachen, was wir erreichen wollen, was unsere Ziele sind." Sie hätte sich den Lockdown schon früher gewünscht und möchte jetzt "konstruktive Lösungen". Brinkmann forderte: "Wir müssen dafür sorgen, dass das Gesundheitssystem für alle Bürgerinnen und Bürger funktioniert. Wir wollen, dass unsere Wirtschaft funktioniert. Wir müssen sicherstellen, dass die Schulen geöffnet bleiben. Wir wollen Krankheits- und Sterbezahlen reduzieren."
Sinnvoll sind alle Maßnahmen, die die Zahl der Kontakte von Menschen untereinander verringern, denn jeder Mensch kann das Virus in sich tragen und verbreiten, ohne es zu wissen. Je klarer die Maßnahmen formuliert sind, und je einfacher sie zu befolgen sind, desto besser ist es. Je mehr Menschen aktiv mitmachen, umso effektiver sind unsere Anstrengungen. Aber klar ist auch: Je vielfältiger die Maßnahmen von Land zu Land und von Stadt zu Stadt sind, desto schwerer sind sie einzuhalten, und desto leichter haben es findige Individuen, für sich die persönlich passenden Ausnahmen in die Regeln hineinzuinterpretieren. Das aber können wir nicht wollen.
Zahl der schwer erkrankten Menschen wird steigen!
Schließlich wollen wir es doch vermeiden, mit den Einschränkungen unser gesamtes öffentliches und wirtschaftliches Leben - wie den Betrieb von Schulen, Produktion und Gesundheitseinrichtungen - abzuwürgen. Genau in letzteren aber, in den Praxen und Kliniken, wird die Lage enger. Selbst wenn wir die Kurve abflachen, die uns die Zahl der Neuinfektionen anzeigt, wird die Zahl der erkrankten und schwer erkrankten Menschen noch über Wochen steigen. Und je länger die Zahl der Patienten steigt, desto mehr geraten die Gesundheitseinrichtungen an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Es ist ziemlich genau vier Wochen her, dass Frankreich mit gut 20.000 am Tag eine ähnliche Zahl an Neuinfektionen hatte, wie wir sie jetzt haben. Am Wochenende waren es in Frankreich 60.000 Neuinfektionen pro Tag. In der Schweiz liegt die 7-Tage-Inzidenz in einigen Gebieten bei über 2.000 je 100.000 Einwohner. Die Krankenhäuser in diesen Ländern kommen jetzt schnell an ihre Grenzen.
Das kann uns auch passieren, wir liegen in der Entwicklung der Zahlen nur einige Wochen zurück. Diese Zeit sollten wir nutzen und alle dazu beitragen, dass die Pandemie bei uns unter Kontrolle bleibt.
Ärzte und Pfelger sind auch nur Menschen!
Denn auch innerhalb Deutschlands und Hessens sehen wir eine zwar unterschiedliche Zahl an Neuinfektionen, die sich aber – nur zeitlich versetzt – in eine gefährliche Richtung entwickelt. Die Entwicklung im Rhein-Main-Gebiet hat bereits dazu geführt, dass die Krankenhäuser dort aufgrund der vielen COVID-Patientinnen und -Patienten überlastet sind. In den letzten Tagen haben wir in Nord- und Osthessen zahlreiche Patientinnen und Patienten von dort in unsere Krankenhäuser übernommen. Und vor dem Hintergrund der aktuellen Zahlen in Fulda, müssen wir davon ausgehen, dass es Ende November auch bei uns richtig eng werden wird. Bereits heute sind mehr als 20 Prozent der Intensivbetten im Klinikum Fulda mit COVID-Patienten belegt.
Und noch eine – absehbare aber gravierende – Erschwernis kommt hinzu: Weil Ärzte und Pflegende auch nur Menschen sind, können sie sich ebenso wie alle anderen anstecken. Im Klinikbetrieb schützen sich unsere Mitarbeiter, so umfangreich dies möglich ist, und Infektionen am Arbeitsplatz sind bisher kein wirkliches Problem in den Krankenhäusern. Aber in den Familien und beim Einkaufen tragen unsere Ärzte und Schwestern keine Schutzanzüge. Dort sind sie verletzlich wie jeder andere auch. Wenn sie aber im Klinikbetrieb ausfallen, dann trifft ihre Infektion den Kernbereich unserer Daseinsvorsorge. Was ist, wenn Intensivstationen schließen müssen, weil die Spezialisten, die dort arbeiten, erkrankt sind? Die Folgen eines solchen Szenarios wollen wir uns nicht vorstellen, darum müssen wir alles daran setzen, sein Eintreten zu verhindern.
Die Opfer, die wir dafür in der vergangenen Woche gebracht haben, waren aus meiner Sicht vertretbar. Das Leben hat sich verändert, aber nicht so stark wie noch im März. Ja, es gibt bestimmte Berufsgruppen und echte Leistungsträger dieser Gesellschaft, denen wir viel und vielleicht zu viel an Einschränkung abverlangen. Aber welche Bereiche des Lebens sollten wir stattdessen schließen? Je wirksamer wir jetzt die Zahl der Kontakte unter Menschen reduzieren und damit die Verbreitung des Virus einschränken, desto "sanfter" und kürzer kann der "Lockdown" sein. Je weiter sich das Virus aber jetzt ausbreitet, desto schmerzhafter und langfristiger werden die Einschnitte womöglich noch für lange Zeit sein.
Deshalb meine Bitte: Machen Sie mit bei den Maßnahmen! Helfen Sie sich, Ihren Angehörigen und Freunden und Sie helfen uns in den Krankenhäusern. Damit wir für Sie da sein können, wenn Sie uns brauchen. (Thomas P. Menzel) +++