Archiv
Wie wir in diesem Jahr Weihnachten feiern werden, entscheiden wir heute!
18.10.20 - Meistens ist es schön, Recht zu behalten, manchmal eher nicht. Die Zahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus steigt wieder. Davor hatten die Fachleute schon vor langer Zeit gewarnt. Von Beginn an war klar: Im Herbst, wenn die Zeit der Infektionskrankheiten kommt, kommt auch die neue Hoch-Zeit für das neue Virus.
Darum hatten Wissenschaftler, die die Situation verstehen, schon im Sommer die Ideen und die Pläne vorgelegt, wie der Beginn der zweiten Flut der Pandemie hinauszuzögern oder gar zu verhindern wäre. Aber offenbar waren der Sommer zu schön und die Zahl der Neuinfektionen zu niedrig, um sich die Erholung vom Corona-Frühling mit Gedanken an ein Aufflammen der Pandemie verderben zu lassen.
Doch die Natur ist, wie sie ist. Sie nimmt keine Rücksicht auf unsere Lust und unsere Launen. Das Absehbare muss im Herbst erst mit voller Wucht eintreten, damit die Strategien vom Sommer im Oktober endlich ernsthaft diskutiert werden.
Das Bild der Pandemie, die als kleiner Schnellball oben am Berg ins Rollen kommt, und auf dem Weg zu Tal zu einer Lawine wird, beschreibt die Situation recht gut.
Der Schnee, die Viruslast, ist da. Irgendwann im Winter sind die ersten kleinen Schneebälle losgerollt. Und jetzt entscheidet jeder einzelne, ob er aus Versehen, aus Naivität, aus Gleichgültigkeit oder mit einer in Vorsatz übergehenden Fahrlässigkeit dazu beiträgt, dass die Lawine größer wird und weiter an Fahrt gewinnt.
Im Juni zählten wir ein paar 100 Neuinfektionen am Tag. Ende August waren es etwa 1.000 und damit so viele wie Anfang Mai. Mitte September waren wir schon bei 2.000 Neuinfektionen am Tag – wie im April. 4000 Neuinfektionen am Tag waren es Anfang Oktober. Und aktuell gehen wir auf die Marke von 8.000 zu. Setzte sich diese Entwicklung fort, und die Zahl der Neuinfektionen verdoppelte sich alle zwei Wochen, zählten wir am Jahresende – rein rechnerisch – über 200.000 Neuinfektionen am Tag. Ob eine solche exponentielle Entwicklung tatsächlich so eintritt, ist nicht ausgemacht. Aber das ist der Weg, auf den wir uns begeben haben.
Die Entwicklung in unseren europäischen Nachbarländern - vor allem in Frankreich und in Spanien – zeigt, wie sich eine solche Dynamik zur Realität wird. In Frankreich gibt es in allen großen Städten schon nächtliche Ausgangssperren, und Madrid wurde vor einiger Zeit abgeriegelt, die Betten auf den Intensivstationen werden knapp. Und auch in Holland kommen die Krankenhäuser an Ihre Grenzen. Die Entwicklung der Pandemie bei uns unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der in diesen Ländern. Wir liegen derzeit lediglich zwei bis drei Wochen zurück.
Deshalb wird auch bei uns wieder über einen Lockdown nachgedacht. Aber selbst wenn es dazu käme, stiege die Zahl der Fälle in den nächsten zwei Wochen weiter an. Denn die Fälle, die in der nächsten oder übernächsten Woche gemeldet werden, sind heute schon durch eine Infektion angelegt – meist ohne dass die Betroffenen das überhaupt bemerkt haben. Die Zeit drängt also.
Abzuwarten, bis sich die Ministerpräsidenten und die Kanzlerin auf neue Maßnahmen geeignet haben, wird nicht reichen.
Wir müssen selbst aktiv werden. Denn die Frage, die wir in diesen Tagen mit unserem Verhalten entscheiden, lautet: Können wir die Lawine noch aufhalten, oder werden wir Weihnachten im Lock-Down verbringen?
An dieser Stelle soll nicht verschwiegen werden, dass es auch andere Einschätzungen der Lage und der daraus abzuleitenden Maßnahmen gibt. Die Absonderung von Risikogruppen – also ein Komplett-Lockdown für alle, die älter als siebzig Jahre sind und die freiwillige Selbstisolation aller jüngeren mit Risikofaktoren – geschätzt sind das übriges 20% der Bevölkerung – soll in diesen Überlegungen allen anderen erlauben, wieder ein normales Leben zu führen, sich zu infizieren, die milde Form der COVID-Erkrankung durchzumachen und anschließend mit der erworbenen Immunität dazu beizutragen, dass die Pandemie langsam ausläuft.
Aus Sicht der Krankenhäuser birgt ein solches Vorgehen die Gefahr einer Überlastung der Kapazitäten. Eine große Anzahl von Erkrankten führt zwangsläufig zu mehr Patienten in den Krankenhäusern, selbst wenn die Absonderung der Alten wirklich gelingen sollte – was mehr als fraglich ist. Auch wenn wir seit dem Frühjahr viel getan haben und die Anzahl der Betten auf den Intensivstationen - die übrigens auch ohne COVID-Patienten gut ausgelastet sind -erhöht haben. Es würde wieder eng werden, so wie es in Madrid schon jetzt wieder zu beobachten ist. Die Option, ältere COVID-Patienten - wie es in Schweden praktiziert wurde - gar nicht mehr in die Krankenhäuser zu bringen, ist hierzulande nicht wirklich vorstellbar.
Was sollten wir also tun?
Wir haben es vermasselt, doch wir können es jetzt auch selbst noch richten, schrieb Christiane Peitz sinngemäß in ihrem Kommentar im Tagesspiegel. Das trifft es gut.
Es kommt weiterhin – und in der klassischen Schnupfen- und Grippe-Jahreszeit erst recht - auf jeden Einzelnen an, ob wir eigenverantwortlich mit der Situation umgehen. Jeder von uns.
Mit der Anzahl der Infizierten steigt die Menge an Viruslast in der Gesellschaft. Der aktuelle R-Wert, der angibt, wie viele weitere Menschen ein Infizierter ansteckt, liegt derzeit bei 1,2. Das heißt jede Infizierte Person steckt mehr als eine weitere an, im Durchschnitt der letzten sieben Tage also aktuell 1,2. Aber die infizierten Menschen selbst sind sehr unterschiedlich ansteckend.
Aus Studien wissen wir, dass sich nur etwa 10 bis 15 Prozent der Menschen mit engem Kontakt zu einem Infizierten anstecken. Dafür reicht ein Gespräch von 15 Minuten ohne Maske und Abstand. Hinzukommen etwa 5 bis 10 Prozent der Menschen, die sich anstecken, obwohl sie keinen sehr engen Kontakt mit einer infizierten Person hatten, wenn sie zum Beispiel für einige Zeit im gleichen Raum waren.
Die Ursache dafür, dass die R-Zahl trotzdem größer als 1 ist, liegt in dem Phänomen der Überdispersion durch Superspreader. Das sind die Menschen die - häufig, ohne es selbst zu bemerken- infiziert sind und große Mengen von Viren an die Umgebung abgeben. Wenn das dann an einem Ort passiert, an dem sich gerade viele Menschen befinden, dann kann es zu zahlreichen Übertragungen des Virus kommen und damit zu vielen Neuinfektionen. So entsteht ein Infektions-Cluster.
Wir wissen schon seit einiger Zeit, dass sich das SARS-Corona-Virus-2 vor allem auf diesem Weg – in Clustern - weiterverbreitet. Gelegenheit dazu hat das Virus nach dem aktuellen Wissensstand weniger in Schulen und Kitas, in öffentlichen Verkehrsmitteln und beim Frisör. Von dort gehen nach heutigen Stand selten Ausbrüche aus.
Die Problemzonen liegen anderswo: In vielen Bars und Kneipen, aber auch in manchen Restaurants geht es wieder enger zu. Und bei privaten Parties, Hochzeiten und Familienfesten wird häufig schon bei der Begrüßung - spätestens aber nach dem vierten Bier oder dem zweiten Glas Wein - jegliches Abstandsgebot ignoriert. Da reicht dann eine einzelne Person, um zahlreiche andere anzustecken. Das sollten wir lassen.
Hinzu kommt ein weiteres Problem. Die tatsächliche oder vermeintliche Erkenntnis, wo sich jemand das Virus eingefangen hat, beruht in der Regel auf den Angaben des Infizierten selbst. Die Infektion, die heute festgestellt wird, hat sich meist sechs bis zehn Tagen zuvor ereignet.
Hand aufs Herz: Wer weiß denn heute noch genau, wo er sich vor sechs bis zehn Tagen in einer möglichen "Cluster-Situation" befunden hat, sei es in einer Kneipe, einem Fitnessstudio oder auch in einer größeren Besprechung in der Firma.
Das ist übrigens bei Erkältungserkrankungen genauso. Das Grübeln, wo man sich die aktuelle Erkältung eingefangen hat, kennen wir alle. Es ist einfach sehr schwer, sich dran zu erinnern, in welchen Gefährdungssituationen, in welchem Cluster wir uns vor sechs bis zehn Tagen aufgehalten haben.
Das aber ist für den weiteren Verlauf der Pandemie ein großer Nachteil, denn aus diesem Ursprungs-Cluster, an das sich der einzelne nicht mehr erinnert, wird das Virus weitergetragen, ohne dass die Fälle gemeldet werden und Maßnahmen eingriffen werden könnten.
Der Virologe Christian Dorsten hat Recht, wenn er empfiehlt, das Augenmerk nicht allein auf die Vorwärtsverfolgung zu richten, also abzufragen, wen der neuerkannte Infizierte in den letzten paar Tagen, als er selbst schon infektiös war, getroffen und möglicherweise angesteckt hat. Stattdessen sollte im Blick zurück auch das so genannte Quellcluster, das zur Ansteckung geführt hat, ermittelt werden, um die weiteren Kontaktketten, die von diesem ausgehen, intensiv nachverfolgen zu können.
Und genau an dieser Stelle kann jeder einzelne einen wichtigen Beitrag leisten, indem wir alle ein Cluster-Tagebuch führen. In unser Cluster-Tagebuch schreiben wir jeden Abend, wo wir im Laufe des Tages außerhalb unseres normalen Umfelds mit andern Menschen zusammengekommen sind. Im Falle einer Infektion kann diese Information dem Gesundheitsamt die entscheidenden Hinweise für eine wirksame Unterbrechung der Infektionsketten geben.
Es ist eigentlich ganz einfach: Wir sollten uns des Risikos einer Infektion stets bewusst sein. Darum sollten wir körperliche Nähe zu anderen Menschen meiden, Abstand halten, den Mund-Nasen-Schutz tragen und die Hände – richtig – waschen. Wir sollten die Zahl unserer Kontakte, vor allem zu Menschen aus anderen Haushalten, einschränken – das heißt auch, auf Urlaubsreisen und Feiern zu verzichten.
Und wenn die Nase läuft und es im Hals kratzt, dann sollten wir zu Hause bleiben. Nicht jeder Infekt ist eine COVID-19-Erkrankung. Derzeit ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es sich um eine einfache Erkältung handelt. Kommen Fieber, trockener Husten oder ein verändertes Geschmacksempfinden dazu, sollte man seinen Hausarzt kontaktieren. Dann ist in der Regel ein Corona-Test sinnvoll. Auch das ist eigentlich ganz einfach.
Umso unverständlicher ist es, dass ausgerechnet jetzt, wo die Zahlen stark steigen, einige Menschen kein Einsehen zeigen. Einzelpersonen und Vertreter von Klientelinteressen klagen gegen Restriktionen vor Gericht, weil sie nicht einsehen, dass das Interesse am Schutz der Gesellschaft mehr Gewicht hat, als das individuelle Interesse an einem Urlaubswochenende.
Führen wir uns die Zahl nochmals vor Augen, auch wenn es nur ein Rechenwert ist: Wenn die Kurve der Neuinfektionen weiterhin exponentiell steigt, werden immer mehr Menschen in Deutschland infiziert sein mit einem Virus, das schwere Krankheitsverläufe hervorrufen kann und wird. Zwar herrschte in den Krankenhäusern bis vor zwei Wochen bald überall wieder Normalbetrieb. Seitdem beobachten wir aber eine deutliche Zunahme der Zahl von COVID-Patienten.
Und COVID-19 ist mehr als eine Grippe. Die Zahl der Todesopfer unter den Menschen, die sich mit dem neuen Virus infiziert haben, übersteigt die der Todesopfer, die sich mit einem Grippeerreger infiziert haben, um das 20-fache. Das ist keine Angstmache, das sind die Fakten.
Wenn wir weitermachen wie bisher, werden wir Szenen erleben und Bilder sehen, die sich keiner wünscht. Auch die Wirtschaft würde leiden. Über Beherbergungsverbote würden wir dann schon lange nicht mehr diskutieren, denn an Urlaub dächte keiner mehr, und die Wirtschaft hätte massiv Schaden genommen.
Deshalb ist ein vorsichtiger Umgang mit der Pandemie auch für die Wirtschaft gut.
Wir verzichten auf persönliche und körperliche Kontakte, bleiben zu Hause und vermeiden damit den Kollaps des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens. Wir behalten unsere Arbeit und unser Einkommen, und ermöglichen, dass unsere Kinder weiterhin zur Kita und in die Schule gehen können.
Wenn wir jetzt, ein jeder von uns, konsequent Vorsicht walten lassen und für den anderen mitdenken, kann die Zahl der täglichen Neuinfektionen von November an wieder sinken, und wir könnten Weihnachten zwar nicht pandemiefrei, aber unter stabilisierten Verhältnissen begehen.
Wir können es noch richten. Aber nur gemeinsam – und dann jetzt. Wie wir in diesem Jahr Weihnachten feiern werden, entscheiden wir heute. (Thomas P. Menzel) +++