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Mit Flatterbändern und Absperrgittern ist im Messezentrum eine Halle abgeteilt. Hier soll eines vom mehreren für das Land Baden-Württemberg geplanten zentralen Impfzentren entstehen. Das Foto stammt vom 21. November 2020. - Foto: picture alliance/Stefan Puchner/dpa

REGION Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel

Corona-Lockdown: Zwischenstand – Impfung kommt!

Zur Person Dr. Thomas MenzelPriv.-Doz. Dr. med. Thomas P. Menzel (58) ist Facharzt für Innere Medizin mit den Schwerpunkten Gastroenterologie und Hämatologie/ internistische Onkologie sowie Zusatzqualifikationen als ärztlicher Qualitätsmanager und Diplom-Gesundheitsökonom. Seit Mai 2011 ist er Sprecher des Vorstands der Klinikum Fulda gAG.

23.11.20 - Wir haben schon viel erreicht, aber wir haben es noch lange nicht geschafft, lautet der Zwischenstand beim Blick auf den Versuch, die Corona-Pandemie in Deutschland einzudämmen.

Der R-Wert, der die Zahl der Menschen angibt, die von einer infizierten Person durchschnittlich angesteckt werden, pendelt um die 1 und war zum Wochenende leicht - auf 1,05 - gestiegen. Der R-Wert ist ein gutes Maß für die Abschätzung der Dynamik der Pandemie. Zu Monatsbeginn hatte er 1,5 betragen. Das hieß: Zehn Infizierte steckten im Durchschnitt 15 weitere Menschen an. Die rasende Ausbreitung der Krankheit scheint also gebrochen, gleichwohl infizieren sich noch immer zu viele Menschen mit dem Virus.

Die Zahl der täglich festgestellten Neuinfektionen bewegt sich seit etwa zwei Wochen zwischen den Marken von 22.000 und 24.000. Das sind hohe Zahlen, die die Gesundheitsämter vor große Probleme stellen. Auch bei uns in der Region.

Am 20. November, dem vorigen Freitag, waren es 23.648, in der Woche zuvor, am 13. November, 23.542 neu festgestellte Fälle. Allein der Vergleich der Zahl der festgestellten Neuinfektionen zu bestimmten Zeitpunkten liefert jedoch kein umfassendes Bild von der Ausbreitung der Krankheit. Die Dunkelziffer der unerkannten Fälle liegt nach Schätzungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) vier bis fünf Mal höher als die Anzahl der bestätigten Fälle. Zu jedem nachgewiesenermaßen Infizierten kommen also bis zu fünf weitere unerkannte hinzu. Und die Möglichkeiten sowie die Systematik, nach der wir testen, ändern sich: Im Frühjahr fehlten die Testkapazitäten, im Sommer ließen sich nicht infizierte Menschen zum Reisen "freitesten", und im Herbst konzentrieren wir die knappen Testmöglichkeiten wieder auf Menschen mit Symptomen.

Einen Hinweis auf das Ausmaß der Erkrankung, das weniger Interpretationsspielraum lässt, gibt jedoch die Zahl der Menschen, die mit oder an COVID gestorben sind. Am 20. November waren es 260 und am 18. November 305. Diese Zahl schwankt von Tag zu Tag stark. Aber die Kurve liegt jetzt schon über dem Level vom April, als die Pandemie bisher ihren höchsten Todeszoll in Deutschland gefordert hatte. Am 16. April wurden 315 Menschen gezählt, die an oder mit COVID gestorben waren. Drei Wochen nach dem Beginn des "Lockdown light" zählen wir nunmehr täglich so viele Tote wie vier Wochen nach dem Beginn des strengen "Lockdown" im Frühjahr.

Für eine Aufhebung der eher milden Restriktionen spricht also derzeit nichts. Tatsächlich sollten die Maßnahmen eher verlängert werden, und auch eine weitere Verschärfung der Kontaktbeschränkungen wäre zu erwägen. Denn jede Lockerung ließe eine Rückkehr zur exponentiellen Ausbreitung der Pandemie und damit zu einer Explosion der Seuche erwarten.

Nicht die Tatsache, dass wir in einem Kinosessel sitzen oder in einem Restaurant essen, führt zur Ausbreitung des Virus, sondern jeder Kontakt mit potentiell infizierten Menschen erhöht die Wahrscheinlichkeit der Ausbreitung ins Exponentielle. Darum müssen wir die Zahl der möglichen physischen Kontakte unter Menschen so gut es geht beschränken.

Beim Klinikpersonal: Es geht mehr als um Selbstschutz!


Wenn wir es nicht tun, gefährden wir unsere Gesundheitsversorgung akut und zwar für alle Menschen, nicht nur für jene, die schwer an COVID erkrankt sind. Es droht nicht allein die Überlastung der Betten auf den Intensivstationen und die weitere Verschiebung von weniger dringenden Eingriffen. Mit der steigenden Anzahl von Infizierten erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass es auch zu Infektionen unter jenen Menschen kommt, die unseren Kranken am Nächsten sind: Unter dem medizinischen Personal in den Kliniken.

Nicht im Krankenhaus, wo mit großer Vorsicht und unter Einhaltung aller Hygieneregeln gearbeitet wird, sondern außerhalb, wo die Schutzmaßnahmen weniger ausgeprägt sind.

Positive Mitarbeiter werden zuhause isoliert, ihre Kontakte werden in Quarantäne geschickt.

Das bringt die Kliniken schnell an ihre Grenzen, denn wegen des Fachkräftemangels ist die Personaldecke schon zu normalen Zeiten eher dünn.

Unser Gastkommentator Priv.-Doz. Dr. med. Thomas P. Menzel. Foto: Hendrik Urbin

Es geht dem Klinikpersonal um mehr als um Selbstschutz. Wer soll helfen, wenn es die Helfer nicht mehr können? In der Krise sind unsere Schwestern und Pfleger, unsere Ärztinnen und Ärzte das "Schlüsselpersonal" um der Krankheit ihre schärfste Spitze zu nehmen. Wir müssen alles tun, um sie zu schützen.

Darum ist es gut und wahrscheinlich, dass wir bis Weihnachten und darüber hinaus mit weiteren Kontaktbeschränken werden leben müssen. Für gar nicht so wenige von uns ist das der Preis des Überlebens. Die Politik stimmt uns seit Wochen auf die Einschränkungen ein, der lange, dunkle Winter wird zum Bild der Pandemie. Wir müssen die Botschaft nur hören und verstehen wollen.

Impfstoff kommt: Erste Impfungen noch vor Weihnachten?


Aber, klar ist auch: der Tag ist nahe, wenn die Nacht am dunkelsten ist. Wir haben die Aussicht auf die Zulassung erster Impfstoffe, und weitere könnten folgen. Die Aussicht auf eine – hoffentlich - fundamentale Besserung der Lage sollte uns Ansporn sein, die kommenden Wochen und Monate noch mit reduzierten Kontakten durchzuhalten.

Denn wenn erst einmal 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung immun sind, haben wir es geschafft. Und diese Immunität gegen SARS-CoV-2 kann entweder durch die Erkrankung selbst oder durch eine Impfung erreicht werden.

"Gemacht" wird diese Immunität durch unser körpereigenes Abwehrsystem – das Immunsystem. Das Immunsystem des Menschen ist ein komplexes Netzwerk von Zellen, Botenstoffen und anderen Proteinen, das in jeder Sekunde des Lebens aktiv ist, um uns vor  Bedrohung durch Mikroorganismen und Viren, der wir immer und ständig ausgesetzt sind, zu schützen. Bei jeder Antwort auf einen Eindringling kommt es stets darauf an, die Balance zwischen einer zu schwachen und einer überschießenden Reaktion zu halten. Ein Zuviel an Immunantwort kann den Krankheitsverlauf verschlechtern. Das ist beispielsweise ein Problem bei schwer an COVID-19 erkrankten Personen, die beatmet auf unseren Intensivstationen liegen. Das Virus selbst ist dann schon häufig gar nicht mehr nachweisbar, die überschießende Immunreaktion führt aber dazu, das Wasser in die Lunge eintritt und das Gerinnungssystem, das normalerweise dafür da ist, eine Blutung schnell zu stoppen, völlig außer Rand und Band gerät, und überall in den Blutgefäßen kleine Gerinnsel auftreten, die zu Schlaganfällen, Lungenembolien oder Herzinfarkten führen können.

Foto: Adobe Stock / H_Ko

Neben dem so genannten unspezifischen, angeborenen  Immunsystem, das aus der physikalischen Oberfläche an sich besteht, und den von speziellen Zellen produzierten Schleim und Enzymen, die die Bakterienwände durchlöchern, und damit die erste Abwehrreihe gegen Krankheisterreger bildet, gibt es das spezifische Immunsystem. Und auf das kommt es an, wenn wir nach einer durchgemachten Erkrankung oder nach einer erfolgreichen Impfung "immun" gegen genau diesen einen Erreger werden. Neben den Antikörpern, die von den sogenannten B-Lymphozyten produziert werden, gehören auch die T-Lymphozyten zur spezifischen Abwehr.

Die T- und B-Zellen arbeiten eng zusammen, und gemeinsam lernen sie, mit einem neuen Erreger umzugehen. Das ist dann auch immer ein Wettlauf mit der Zeit. Ist der Erreger, das Virus oder das Bakterium schneller, geht es schlecht aus. Ist der Kampf erstmal gewonnen, schafft sich dieser Teil unseres Immunsystems ein spezifisches "Gedächtnis" gegen diesen Erreger an. Kommen wir dann später wieder in Kontakt mit dem Erreger, ist die Antwort schnell und kräftig. Meist wird schon die erneute Infektion, also das Eindringen in den Körper, verhindert, zumindest aber der Ausbruch der Erkrankung selbst. Und da es in der Biologie extrem selten ist, dass etwas immer und zu hundert Prozent gelingt, gibt es auch hier auch Ausnahmen. Deshalb waren die Daten der Impfstoff-Tests durchaus eine positive Überraschung. Denn mit der mehr als 90-Prozent-Erfolgsrate bei der Verhinderung einer COVID-19-Erkrankung bieten die beiden bisher vorliegenden Impfstoffe tatsächlich Anlass zur Hoffnung.

In Ulm wird eines von mehreren Impfzentren des Landes Baden-Württemberg errichtet. ...Foto: picture alliance/Stefan Puchner/dpa

Zum Vergleich: Der jährlich neu zusammengesetzte Influenza(Grippe)-Impfstoff schützt uns in der Regel mit einer Erfolgsquote von 70 bis 80 Prozent. Apropos Grippe: Diese Impfung muss jährlich neu erfolgen. Das wird nach derzeitigem Stand wegen SARS-CoV-2 nicht erforderlich sein, denn im Gegensatz zum Erreger der Grippe, dem Influenza-Virus, verändert sich das Coronavirus an seiner Oberfläche – und an dieser wird es von unserem Immunsystem erkannt – nur wenig. Die ersten beiden Impfstoffe, die breit verfügbar sein werden, schaffen eine spezifische Antwort gegen jenen Teil der Oberfläche des Virus, der für das "Andocken" an die Zellen des menschlichen Körpers benötigt wird. Die Impfstoffe verhindern damit, dass das SARS-CoV-2 in die Zellen gelangen kann. Und das bedeutet dann für das Virus das Ende der Reise.

Die Art, wie diese Impfstoffe wirken, ist neu: Statt - wie beispielsweise bei der Grippeimpfung - das Virus als Ganzes hochzuzüchten, abzutöten und dann zu verimpfen, wird lediglich eine genetische Information, die so genannte mRNA – verpackt in kleine "Fett-Tröpfchen" – gespritzt. Die mRNA gelangt in die körpereigenen Zellen und liefert diesen den "Bauplan" für das so genannte "Spikeproteins" (S-Protein) des Coronavirus. Das ist genau das Eiweißteilchen, das dem Virus bei einer Infektion den Zutritt in unsere Zellen ermöglicht. Das Protein wird nach der Impfung in unserem Körper eine Zeit lang produziert und gelangt dann in Kontakt mit unserem Immunsystem, das daraufhin Antikörper und spezifische Abwehrzellen bildet. Durch dieses Prinzip kann mit sehr wenig Menge an Impfstoff sehr viel erreicht werden, da der Körper selbst den eigentlichen Impfstoff herstellt. Der Impfstoff ist zudem sehr sicher, da der Botenstoff, die mRNA, sich nach einiger Zeit von selbst auflöst.

Das wiederrum ist auch eines der Probleme, mit denen wir bei der eigentlichen Impfung umgehen müssen. Der Biontech/Pfizer Impfstoff – der in Deutschland entwickelt wird - muss bei minus 70° Celsius gelagert werden, was die Abläufe nicht einfacher macht. Der zweite mRNA-Impfstoff, der der amerikanischen Firma Moderna, hat eine andere Hülle und soll auch bei Lagerung im Kühlschrank bei 4° Celsius für fast 30 Tage stabil bleiben. Das wäre gut.

Die Vorbereitungen laufen: Helfer des Deutschen Roten Kreuzes simulieren im Messezentrum ...Foto: picture alliance/Stefan Puchner/dpa

Derzeit laufen die Vorbereitungen für die Durchführung der Impfungen in Deutschland.

Wenn alles gut läuft, könnten die ersten Impfungen noch vor Weihnachten beginnen. So, wie es derzeit aussieht, werden die Ärztinnen und Ärzte sowie die Pflegekräfte als erstes geimpft – freiwillig versteht sich. Die Bereitschaft dafür ist groß, wenn auch nicht umfassend. Umfragen zeigen, dass sich bis zu 70 Prozent der Ärzte rasch impfen lassen wollen, andere haben Bedenken. Die Daten aus den Impf-Studien zeigen allerdings ein sehr gutes Sicherheitsprofil. In einigen Fällen klagen die Geimpften über Müdigkeit, leichtes Fieber sowie Kopf- oder Gliederschmerzen. Mögliche späte Nebenwirkungen können zum heutigen Zeitpunkt ehrlicherweise nicht ausgeschlossen werden, so viel ist klar. Die Wahrscheinlichkeit, dass Nebenwirkungen eintreten, ist allerdings wohl deutlich geringer, als die Wahrscheinlichkeit, an einer COVID-19 Erkrankung zu versterben. Das ist ein gutes Argument für die Impfung. Ich jedenfalls werde mich gerne und sobald wie möglich impfen lassen.

Bundesweite Impfzentren - auch in Fulda!


Die Pläne der Bundesregierung sehen zahlreiche Impfzentren in ganz Deutschland vor. Auch bei uns in Fulda wird ein solches Zentrum entstehen. Die Aufgabe ist groß: Impfungen für die mehr als 230.000 Menschen im Landkreis zu organisieren, von denen sich nach derzeitigem Stand wohl 60 Prozent impfen lassen wollen – also knapp 150.000 Menschen. Das wird eine echte Herausforderung. Zumal zwei Injektionen im Abstand von drei Wochen erforderlich sind. Die Immunität setzt dann etwa vier Wochen nach der ersten Impfung ein.

Das DRK trainiert schon jetzt die Abläufe, damit die Impfaktion reibungslos läuft, ...Foto: picture alliance/Stefan Puchner/dpa

Auch wenn das nicht einfach wird, es ist unsere beste Chance, unser normales Leben wieder zu gewinnen und schon deshalb jede Anstrengung wert. Wenn wir immunisiert sind, können wir aufatmen und uns einstweilen wieder freier bewegen, - bis wir wissen, wie lang die Immunisierung anhält. Und es gibt mittlerweile vielsprechende Hinweise darauf, dass die Immunität nachhaltig sein wird.

Bis es aber so weit ist, und wir hoffentlich im kommenden Jahr - aber vielleicht auch erst später - die ausreichende Herdenimmunität erreicht haben werden, gilt es wachsam zu sein. Aus Verantwortung für uns und andere sollten wir weiterhin größte Vorsicht walten lassen, damit es im Winter und Frühjahr nicht wieder zu einem exponentiellen Anstieg der Zahlen kommt.

Allein die Aussicht auf die Impfung bietet noch keinen Schutz, und die Vorfreude auf ein wieder unbeschwertes Leben sichert keine Immunität. Im Gegenteil: Leichtsinn kann töten. Jederzeit. (Thomas P. Menzel) +++

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