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Die Corona-Maßnahmen jetzt schon zu lockern, hält Dr. Thomas Wenzel für falsch. - Foto: picture alliance/dpa | Peter Kneffel

FULDA Gast-Kolumne von Dr. med. Thomas Menzel

Die Omikron-Wette: Wer zu früh lockert, den bestraft das Virus

ZUR PERSON DR. THOMAS MENZELPriv.-Doz. Dr. med. Thomas P. Menzel (59) ist Facharzt für Innere Medizin mit den Schwerpunkten Gastroenterologie und Hämatologie/ internistische Onkologie sowie Zusatzqualifikationen als ärztlicher Qualitätsmanager und Diplom-Gesundheitsökonom. Seit Mai 2011 ist er Sprecher des Vorstands der Klinikum Fulda gAG.

07.02.22 - Globale Pandemien kennen keine Ländergrenzen. Das zeigt Omikron ebenso wie die anderen Varianten des Virus, die uns in den zurückliegenden zwei Jahren erreicht haben. Schon bevor Anfang November 2021 die neue Variante B.1.1.529 des SARS-CoV-2 zuerst in Südafrika beschrieben und von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit dem Namen "Omikron" versehen worden war, - da war diese Variante auch in Europa wohl schon einige Zeit unterwegs. Die hektischen Maßnahmen zur Verhinderung einer Einschleppung der neuen Variante wie Reisebeschränkungen und Grenzschließungen, die allerorten ergriffen wurden, waren von vorneherein zum Scheitern verurteilt.

Omikron war plötzlich, aber nicht überraschend in die Welt gekommen. Für eine relativ lange Zeit herrschte Ruhe an der Varianten-Front, aber diese Ruhe war trügerisch, denn wann es mit einer weiteren neuen Variante weitergeht, ist nicht vorhersagbar.

Die gigantische Omikron-Welle

Die wahrlich explosionsartige Ausbreitung in vielen Ländern unterstreicht die im Vergleich zu den bisher bekannten Varianten deutlich erhöhte Übertragbarkeit von Omikron, die überwiegend darauf zurückzuführen ist, dass Omikron auch Geimpfte und Genesene infizieren kann. Omikron unterläuft die Immun-Abwehr. Für diesen so genannten "Immun-Escape" bei Menschen, die bereits Antiköper gegen das SARS-CoV-2 gebildet haben, sind vor allem zahlreiche Veränderungen am S1-Protein des Virus verantwortlich - dem Teil des Virus, der an dem ACE2-Rezeptor menschlicher Zellen andockt. Bereits vorhandene Antikörper gegen frühere Versionen des Virus verlieren dadurch einen Teil ihrer Wirksamkeit.

Das gilt für beide Subtypen des Omikron-Virus, die als BA.1 und BA.2 bezeichnet werden. Derzeit dominiert bei uns noch BA.1. In Dänemark und England ist BA.2 bereits die häufigste Variante und in anderen Ländern ist sie auf dem Weg dahin. BA.2 unterläuft die Immunabwehr ähnlich gut wie BA.1, überträgt sich darüber hinaus aber wohl noch schneller von Mensch zu Mensch, weil es zusätzlich noch über einen so genannten "Fitnessvorteil" verfügt. Sollte BA.2 auch in Deutschland die Vorherrschaft übernehmen, ist – möglicherweise auch nach einem kurzen zwischenzeitlichen Rückgang - mit einem weiteren Anstieg der Infektionszahlen zu rechnen.

Unser Gast-Kolumnist Priv.-Doz. Dr. med. Thomas Menzel Archivfoto: O|N

Vor einem schweren Verlauf der Erkrankung – egal ob die Infektion durch Delta, Omikron BA.1 oder BA.2 verursacht wurde - sind aber die geimpften und genesenen Menschen dennoch gut geschützt. Insbesondere wenn sie das S1-Protein schon drei Mal "gesehen" haben, sei es durch die dreifache Impfung oder durch eine zweifache Impfung und eine anschließenden Infektion.

Eng wird es allerdings für die Nicht-Immunen, also für alle, die weder geimpft noch genesen sind. Dazu zählen derzeit 24 Prozent der Bevölkerung in Deutschland. Das sind immerhin 20 Millionen Menschen. Vier Millionen davon sind Kinder im Alter von 0 bis 4 Jahren, für die bisher kein zugelassener Impfstoff zur Verfügung steht, und bei denen die Erkrankung glücklicherweise nur sehr selten einen schweren Verlauf nimmt.

Omikron ist nicht harmlos

Symbolfotos: O|N

Anders sieht es jedoch in der Altersgruppe der über 60-jährigen aus. Menschen dieser Altersgruppe weisen generell ein großes Risiko für einen schweren Verlauf der COVID-19- Erkrankung auf – auch bei Omikron. Zu dieser Altersgruppe zählen in Deutschland mehr als drei Millionen nicht-geimpfte Menschen. Auch wenn die tatsächliche Impfquote nach Angaben des RKI um bis zu fünf Prozentpunkte höher liegen könnte: Wenn sich aus der Gruppe der über 60-jährigen viele in kurzer Zeit mit Omikron infizieren, könnte es wieder eng werden in unseren Krankenhäusern. Aber auch bei den unter 60-jährigen COVID-Patienten sehen wir schwere Verläufe, die intensivmedizinischer Behandlung bedürfen und auch das so genannte Long-COVID-Syndrom, das mit erheblichen Beeinträchtigungen im Alltag einhergehen kann.

Hinzukommt, dass derzeit auch viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Krankenhäusern und Arztpraxen – und auch in anderen Bereichen der so genannten Kritischen Infrastruktur (KRITIS) - positiv auf Corona getestet werden. Sie fehlen dann aufgrund von Isolierung und Quarantäne. Die Aufrechterhaltung der Versorgung der Patientinnen und Patienten wird dadurch zu einer immer größeren Herausforderung. Die Situation ist bereits heute besorgniserregend.

Wie geht es weiter mit der 5. Welle?

Die 5. Welle der Pandemie, die "Omikron-Welle", die wir gegenwärtig erleben, kommt mit schwindelerregenden Inzidenzen, die wir uns bis vor einigen Monaten nicht vorstellen konnten. Im vorigen Winter hatte eine Inzidenz von 50 pro Woche je 100.000 Einwohner die Alarmstufe rot ausgelöst, heute liegen wir bei weit über 1.000.

Trotz dieser durchaus erschreckenden Zahlen wird in Deutschland über Lockerungen diskutiert. Die Belastung der Krankenhäuser sei niedrig, weil Omikron milder verlaufe. Eine Überlastung des Gesundheitssystems sei deshalb nicht zu befürchten. 

Stimmt das wirklich? Wenn wir ehrlich sind, können wir auf Grundlage der aktuellen Daten noch nicht sagen wie es bei uns weitergehen wird. Auch wenn in Ländern wie Dänemark oder Großbritannien alle Maßnahmen beendet werden, weil es dort bisher tatsächlich nicht zu einer deutlichen Steigerungen der Zahl der Einweisungen in die Krankenhäusern und auf die Intensivstationen gekommen ist.

Deutschland ist nicht Dänemark

Die Situation in Deutschland ist anders. Der Immunstatus der Bevölkerung bei uns ist anders. Insbesondere die Impflücke bei den Älteren stellt ein noch nicht kalkulierbares Risiko dar.

Aktuell steigt die Anzahl der COVID-Patientinnen und Patienten in den Krankenhäusern wieder deutlich an, seit einigen Tagen auch auf den Intensivstationen. Das spricht dafür, dass Omikron, das sich in den letzten Wochen überwiegend unter jungen Menschen verbreitet hat, jetzt auch die Älteren erreicht hat und damit wieder mehr COVID-Patienten auf die Intensivstationen bringt.

Aus den bisherigen Wellen kennen wir den Ablauf der Infektion. Der ist auch bei Omikron nicht so viel anders. Es dauert einfach einige Zeit von der Infektion über die Diagnose bis zur Einweisung ins Krankenhaus, auf die Intensivstation und in manchen Fällen bis zum Tod. Auch wenn der Anteil solch schwerer Verläufe bei Omikron tatsächlich geringer ist, kann es aufgrund der extrem hohen Infektionszahlen immer noch zu mehr schweren Verläufen kommen als unser Gesundheitssystem und speziell die Krankenhäuser verkraften können.

Wer zu früh lockert, den bestraft das Virus

Sollten aber in den nächsten drei Wochen die Krankenhäuser keine Überlastung melden, dann können wir wahrscheinlich wirklich mit gutem Gewissen lockern. Schrittweise und mit Augenmaß. Zum jetzigen Zeitpunkt wäre es eine gefährliche Wette.

Denn die aktuelle Welle wird voraussichtlich noch im Februar ihren Scheitelpunkt erreichen und dann im Frühling auslaufen, auch wenn wir noch nicht gut einschätzen können, welche Auswirkungen BA.2 haben wird. Denkbar wäre, dass es im März erneut zu einem BA.2-bedingten Anstieg kommen könnte. Wer zu früh lockert, den bestraft das Virus.

Und dann kommt der Sommer, der – vorausgesetzt das Virus bringt keine neuen Varianten hervor, die alle bisherigen in den Schatten stellt – eine Beruhigung der Lage erwarten lässt. Spannend wird es erneut im nächsten Herbst: Wenn wir bis dahin die derzeit noch bestehenden Immunitäts-Lücken gefüllt haben - sei es durch Impfungen oder Infektion - könnte unser Leben wieder weitgehend normal werden. 

Für den weiteren Verlauf der Pandemie spielt es keine Rolle, wie sich die Immunität aufbaut. Für den einzelnen Menschen aber durchaus. Denn für den Einzelnen ist es in jedem Fall besser und sicherer, die individuelle Immunität durch eine Impfung zu erhalten oder zu boostern, als durch eine Infektion. Auch wenn es bei dieser Frage unterschiedliche Meinungen gibt: die Faktenlage ist mehr als eindeutig. Das Risiko, aufgrund einer Infektion mit dem Virus schwer zu erkranken, überwiegt bei Weitem gegenüber den durchaus vorhandenen - aber sehr geringen - Risiken durch die Impfung. In dieser Aussage steckt die ganze Logik der Impfbefürworter. Sie ist nicht widerlegbar.

Deshalb ist es überhaupt keine gute Idee, sich jetzt lieber infizieren statt impfen lassen zu wollen. Schwere Verläufe und echte Langzeitfolgen (Long-COVID) sehen wir auch bei Omikron.

Warum einige Menschen derzeit dennoch versuchen, sich bewusst anzustecken, ist rational nicht zu verstehen und für diese Personen ein Spiel mit dem Feuer. Es gibt keine ernstzunehmenden Wissenschaftlerinnen oder Ärzte, die so etwas empfehlen würden.

Unbestimmte Ängste und Trotz

In vielen Gesprächen mit Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, habe ich eine unbestimmte Angst vor den Impfstoffen wahrgenommen, die durch falsche Informationen und Unsicherheiten genährt wird und der durch Fakten leider nur schwerlich zu begegnen ist.

Denn die Fakten sprechen eine klare Sprache: Bis heute sind mehr als 8 Milliarden Impfungen - darunter mehr als 5 Milliarden mRNA-Impfdosen - verabreicht worden. Nur in wenigen Einzelfällen, deren Zahl nicht einmal im Promillebereich liegen dürfte, ist es bei den geimpften Menschen zu schweren Schäden gekommen. Nie zuvor konnten bei einer Impfung weltweit so viele Daten erhoben werden, die alle zeigen: Die Impfungen sind sicher und effektiv.

Das zu glauben, fällt einigen schwer, selbst wenn alle Zahlen und Daten transparent und nachvollziehbar auf dem Tisch liegen. Bleibt die Frage, warum die seriösen Mediziner, die Wissenschaftler und die Verantwortlichen bei diesen Menschen weniger Vertrauen genießen als die, die offensichtlich dazu beitragen (und davon profitieren mögen), dass Verunsicherung und Unruhe herrscht. Die Wirklichkeit zu leugnen, hat gravierende Folgen. Die so genannte "Übersterblichkeit" war im vorigen Jahr dort besonders hoch, wo die Impfquote niedrig war.

Aktuelle Untersuchungen zeigen aber auch, dass ungeimpfte Menschen, die sich durch Aufklärung und vor allen durch Apelle, sich doch endlich impfen zu lassen, unter Druck gesetzt fühlen und in Folge eher dazu tendieren, sich nicht impfen zu lassen. Wir sollten uns Gedanken machen, wie wir diese Menschen erreichen.

Bleiben wir realistisch

Trotzdem: Orientieren wir uns an den Fakten und bleiben wir Realisten. Manches spricht dafür, dass die Corona-Pandemie in diesem Jahr auslaufen könnte, aber kein Mensch kann das heute schon mit Sicherheit voraussagen. Eine Wendung zum Besseren, aber auch zum Schlechteren bleibt möglich.

SARS-CoV-2 wird in der Welt bleiben und auch immer wieder zu neuen Infektionen führen. Wir müssen uns fragen, "wie viele Erkrankungen sind wir bereit zu akzeptieren, wie viele können wir verhindern und um welchen Preis," sagt Gérard Krause, Epidemiologe am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig und fordert eine gesellschaftliche Verständigung, da es sich dabei nicht um eine rein medizinische Frage handele, sondern um eine breit angelegte Abwägung. "Das Ziel muss es sein, die schlimmsten Schäden zu verhindern und die Schwächsten zu schützen", so Krause. "Wir wissen nicht, was für Varianten noch kommen, die die Immunität vielleicht umgehen und auch zu schweren Verläufen führen können", sagte er der Funke-Mediengruppe.

Deshalb: Gehen Sie auch jetzt kein unverantwortlich großes Risiko ein, und nehmen Sie keine Infektion mit der Omikron-Variante leichtfertig oder gar absichtlich in Kauf. Es geht um Ihre Gesundheit.

Bauen Sie für den Herbst vor. Lassen Sie sich impfen und bestärken Sie andere Menschen darin, dies ebenfalls zu tun. Die STIKO, die ständige Impfkommission, empfiehlt aktuell allen über-70-jährigen und Menschen mit Immunschwäche eine 2. Booster-Impfung, wenn die letzte Impfung mehr als drei Monate zurückliegt. Im Impfzentrum am Klinikum Fulda werden ab Montag, den 07.02.2022, Impfungen für diese Personen auch ohne vorherige Terminvereinbarung angeboten. Auch in den Arztpraxen und überall, wo Impfungen angeboten werden, wird es entsprechende Angebote geben. Der Impfstoff der Firma Novavax, der anders als die mRNA-Impfstoffe, aus dem S1-Protein selbst besteht, wird frühestens im April zu Verfügung stehen. Dieser proteinbasierte Impfstoff ist für einige Menschen eine Option, die sie für eine Impfung überzeugen kann.

Lassen wir auch im Frühjahr und im Sommer Vorsicht walten und unsere Freiheiten mit gutem Gewissen verantwortungsbewusst genießen. Tun wir gemeinsam alles dafür, dass die Pandemie zu einem Ende kommen kann.

Gegen ein Virus sollte man nicht wetten. (Dr. Thomas Menzel) +++

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