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Verantwortungslos: 17.000 Menschen demonstrieren am Samstag (01.08.2020) in Berlin – ohne Maske und dicht an dicht. - Foto: picture alliance/REUTERS

REGION Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel

"Vernünftige vor Unvernünftigen schützen": Kein unbeschwerter Sommer!

Zur Person Dr. Thomas MenzelPriv.-Doz. Dr. med. Thomas P. Menzel (56) ist Facharzt für Innere Medizin mit den Schwerpunkten Gastroenterologie und Hämatologie/ internistische Onkologie sowie Zusatzqualifikationen als ärztlicher Qualitätsmanager und Diplom-Gesundheitsökonom. 2004 hat er sich für das Fach Innere Medizin habilitiert. Seit Mai 2011 ist Dr. Menzel hauptamtlicher Vorstand der Klinikum Fulda gAG und trägt dort die Verantwortung für die Krankenversorgung.

03.08.20 - Die Sommerferien haben Halbzeit. Das Leben ist in den öffentlichen Raum zurückgekehrt. Eine Zeitlang schien es, als hätten wir das Virus in Deutschland einigermaßen im Griff. Aber auch wenn die aktuellen Ausbrüche noch lokal begrenzbar sind: Die Corona-Pandemie nimmt wieder Fahrt auf, auch bei uns.

Die Zahl der Neuinfektionen pro Tag steigt. Mit Beginn des Monats August überschritt der Wert der gemeldeten Neuinfektionen zum ersten Mal wieder die Schwelle von 1.000. Zugegeben: Das sind weit weniger neue Fälle als am 27. März, an dem 6.933 Neuinfektionen gemeldet wurden. Aber es sind fast sechs Mal so viele wie am 13. Juni, als wir 172 Neuinfektionen in Deutschland zählten. In den Hessischen Krankenhäusern sind die Zahlen der wegen COVID-19 behandelten Patientinnen und Patienten bis Mitte Juli zurückgegangen, seither steigen sie wieder.

Nach dem Lockdown im März und den ersten Lockerungen im Mai ist nun bei vielen eine sommerliche Sorglosigkeit ausgebrochen, die von einer bedauerlichen und vor allem gefährlichen Naivität geprägt ist, die in letzter Konsequenz zum Tode von Menschen führen wird. Vielleicht auch zum eigenen. Selbst wenn man nicht zur Altersgruppe der über 70-Jähigen gehört.

Das Virus nutzt jede Gelegenheit sich zu vermehren, indem es neue Wirte findet: Menschen, in denen es sich exponentiell vermehren kann, um dann den nächsten zu befallen. Das wird so lange so weitergehen, bis mehr als 65 Prozent der Menschheit die Erkrankung durchgemacht und eine Immunität entwickelt hat. Oder bis ein wirksamer Impfstoff zur Verfügung steht und möglichst viele Menschen geimpft werden.

Und warum lassen wir es dann nicht einfach laufen? So wie Schweden?

Wahrscheinlich keine gute Idee, wie die Schweden mittlerweile auch selbst einräumen. Zum einen haben die Schweden sehr wohl Maßnahmen zur Eindämmung des Virus ergriffen, zum anderen hat die Generation der Großeltern einen hohen Preis gezahlt: 6.000 Menschen sind in Schweden mit oder an Corona verstorben, bei 10 Mio. Einwohnern. Das entspräche 50.000 Toten bei uns, tatsächlich sind in Deutschland weniger als 10.000 Menschen im Corona-Kontext verstoben. Dass wir aus Schweden keine Bilder von überfüllten Intensivstationen gesehen haben, lag vor allem daran, dass die COVID-19-Patienten aus den Alten- und Pflegeheimen gar nicht erst in die Krankenhäuser gebracht worden sind.

Wir haben die Kurve abgeflacht, mit Erfolg. Und diesen Erfolg sollten wir nicht aufs Spiel setzen. Auch wenn gestern wieder 17.000 Unverbesserliche in Berlin – ohne Maske und dicht an dicht – für ihr Recht auf eine zweite Welle demonstriert haben. Vielleicht sollte man denen mal erklären, was beispielsweise in Tulsa passiert, wo der Präsident der USA vor vier Wochen eine Wahlkampf-Veranstaltung ohne Masken absolviert hat. Jetzt sind die ersten Teilnehmer gestorben, darunter auch Herman Cain, der 74-Jährige, ehemalige US-Präsidentschaftskandidat war ein alter Freund Donald Trumps - und ein vehementer Gegner von Corona-Schutzvorschriften.

COVID-19: 65% aller Menschen werden sich kurz oder lang infizieren


Unser Gastkommentator Priv.-Doz. Dr. med. Thomas Menzel. Foto: Hendrik Urbin

Deutschland ist dagegen in Sachen Corona eines der sichersten Länder der Welt. Die Betten auf unseren Intensivstationen haben zu jedem Zeitpunkt ausgereicht, auch weil sich die große Mehrheit der Menschen in unserem Land verantwortungsbewusst und vernünftig verhalten hat und immer noch verhält. Und weil die Krankenhäuser die Kapazitäten hochgefahren und zusätzliche Intensivbetten eingerichtet haben. Schade dass es jetzt schon wieder weitgehend faktenfreie Kontroversen über die korrekte Abrechnung der Zuschüsse gibt, die vor allem von den Krankenkassen geschürt werden. Sie versprechen sich davon einen Vorteil in der Diskussion um die Finanzierung der Krankenhäuser. Denn die Kassen wollen, dass es weniger Krankenhäuser geben soll, obwohl wir in Zeiten wie diesen froh um jeden Platz in einer Klinik sind.
 
Es bleibt dabei: 65% aller Menschen werden sich kurz oder lang mit SARS-CoV-2 infizieren, bevor die Pandemie zu Ende geht – oder geimpft werden. Und bis dahin sollten wir in unserem eigenen Interesse – und im Interesse unserer Angehörigen und Freunde – diszipliniert bleiben.

Wir gewinnen damit wertvolle Zeit um die vielen Fragen, die die Pandemie aufwirft, besser zu beantworten. Nach der Epidemiologie, der Virologie und der Immunologie, nach den (Langzeit-) Schäden, die das Virus im Körper verursacht, und nach der richtigen Diagnose und Therapie.

Und deshalb hat diese Pandemie neben der medizinischen eine mindestens ebenso bedeutsame verhaltenswissenschaftliche und politische Dimension. Bis die Medizin in ihrem Bemühen, helfen zu können, weiter ist, ist die Eindämmung des Virus mit gesellschaftlich-politischen Strategien sogar die weitaus erfolgreichere und damit wichtigere.

Es ist wahr: Zunächst nahmen wir das Virus nicht so ernst, wie wir es hätten nehmen müssen. Es ähnelte in unserer Wahrnehmung dem schon sprichwörtlichen Sack Reis, dessen Umfallen in China in Europa nur ein Schulterzucken hervorruft. Politiker, Ärzte und Wissenschaftler unterschätzen das Virus gleichermaßen.

Die Bilder aus Norditalien und Spanien schockierten uns. Und schon vor den staatlichen Restriktionen begannen die Menschen in Deutschland von sich aus, ihre Mobilität einzuschränken, wie die Auswertung der Nutzung von Routendiensten und Hotelportalen im März zeigte.

"Wir müssen die Vernünftigen vor den Unvernünftigen schützen!"


Der Zugang zum Klinikum Fulda wird weiterhin streng beschränkt.

Für etwa sechs Wochen ging das sehr gut, doch dann hielten die ersten die Stille nicht mehr aus. Etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung, so zeigten es politikwissenschaftliche Studien, negieren die Wirklichkeit. Sie bilden sich ihre Meinung mit Hilfe ihren eigenen, zweifelhaften Quellen und lehnen die Wissenschaft ab. Politisch präferieren sie häufig die Parteien an den Rändern des Meinungsspektrums.

Neben den Leugnern gibt es aber auch die fahrlässigen Ignoranten und die selbstsüchtig Rücksichtslosen, die die Infektion anderer nicht nur billigend in Kauf nehmen, sondern geradezu mit Vorsatz betreiben. "Wir müssen die Vernünftigen vor den Unvernünftigen schützen", hat Markus Söder gesagt, und damit hat er Recht.

Um diese unvernünftigen Menschen, die man im Einzelfall auch "Täter" nennen sollte, zur Raison zu bringen, werden wir mehr als nur an ihre potenzielle Vernunft appellieren müssen. Plätze – wie den Opernplatz in Frankfurt – werden wir sichern, Biermeilen – wie jene auf Mallorca – schließen müssen. Urlauber sollten von vornherein wissen, dass sie Risiken eingehen, die sie nicht der Allgemeinheit aufbürden dürften.

Auch die Krankenhäuser werden wir weiter schützen, und deshalb werden wir den Zugang zum Klinikum Fulda weiterhin streng beschränken. Dabei erleben wir, dass die allermeisten die Vorgaben mit viel Verständnis akzeptieren und einige wenige mit viel Krawall einen unverhältnismäßigen Aufwand verursachen, für den wir am Ende alle aufkommen müssen.

Wer kommt für den Schaden auf, wenn Rückkehrer zur Sicherheit in Quarantäne müssen und nicht arbeiten können? Vor diesem Hintergrund wäre es gut, die Zahl der Tests generell massiv zu erhöhen, um Ausbrüche früher feststellen und Infizierte isolieren zu können. Die massenweise Produktion von Test-Kits kann niemals so teuer sein wie ein abermaliges Runterfahren des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens.

Abstand halten, Masken tragen, Hygienemaßnahmen einhalten. Symbolfoto: Pixabay

Aber wir lernen schließlich auch in der Pandemie jeden Tag dazu. Anstatt ganze Städte, Landkreise und Regionen wieder lahmzulegen, können wir unter bestimmten Bedingungen auch mit größeren Ausbrüchen ohne wirtschaftliche Einbrüche zurechtkommen, wie uns die Ereignisse in den Fleischfabriken, in Göttingen oder aktuell in dem niederbayrischen Gemüsebaubetrieb gezeigt haben. Unsere föderale Struktur kombiniert mit einem ausgeprägten Problembewusstsein bei der Mehrheit der Bevölkerung und den Politiker sind unsere Stärken in Zeiten wie diesen.

Auch medizinisch sind wir weiter als im Frühjahr. Wir wissen damit umzugehen, dass es falsch-negative Testergebnisse gibt. Wir wissen bildgebende Verfahren in der Diagnostik besser einzusetzen. Wir haben gelernt, wie schwer erkrankte Patienten besser zu beatmen sind. Wir verstehen immer mehr, was das Virus im Körper der Kranken alles anrichten kann. Die Therapie wird in kleinen Schritten erfolgreicher. Die Wissenschaft arbeitet an Impfstoffen. Die Bedrohung ist nach wie vor groß, aber wir leben zu Beginn des 21. Jahrhunderts und nicht am Beginn des 20. zur Zeit der "Spanischen Grippe", die einem Weltkrieg folgte.

Wenn wir auch in den nächsten Monaten erfolgreich sein wollen, werden wir uns vor Infektionen schützen müssen. Das wird im Herbst und Winter noch wichtiger sein, als jetzt im Sommer. Dann wird sich bei jeder Erkältung die Frage stellen: Ist das COVID-19, die Influenza-Grippe oder ein banaler Schnupfen?

Abstand halten, Masken tragen, Hygienemaßnahmen einhalten!


Über 700 Personen haben sich auf dem Kreuzfahrtschiff Diamond Princess mit dem Coronavirus ...Foto: picture alliance / AP Images

Der Schutz ist die Aufgabe eines jeden Einzelnen. Wir werden die Enge und die Begegnungen in großer Zahl vorerst meiden müssen und neue Umgangsformen finden. Kein Händeschütteln, keine Umarmungen: das ist die neue Normalität und auch wem die Nähe fehlt, versteht doch, dass es so erstmal besser ist. Digitale Meetings statt kohlendioxidfressender Konferenzreisen werden dazugehören wie hoffentlich auch das regelmäßige Lüften. Denn die Erkenntnis, dass sich die Viren an feine Partikel in der Luft heften und mit diesen komfortabel und weit reisen, ist erschreckend und zwingt uns Konsequenzen auf. Auch werden wir rasch eine gute Lösung für die Kinder und Jugendlichen finden müssen. Dem verlorenen 1. Schulhalbjahr 2020 darf kein weiteres folgen.

Und vielleicht wissen wir bald mehr über das Phänomen der "Superspreader". Menschen die super-infektiös sind und bei passender Gelegenheit sehr viele andere Menschen anstecken, wie es auf einem Kreuzfahrtschiff passiert sein könnte, auf dem ein 80 Jahre alter Reisender etwa 700 Menschen infiziert hat. Derzeit lassen sich solche "Superspreader" aber leider nicht "vorab" identifizieren. Deshalb ist es großer Bedeutung zu verhindern, dass zu viele Menschen auf zu engem Raum Opfer eines solchen Virusangriffs werden können.

Abstand halten, Masken tragen, Hygienemaßnahmen einhalten! Wenn wir das verinnerlichen, haben wir eine echte Chance, unseren erfolgreichen Weg auch erfolgreich fortzusetzen. Nur gemeinsam sind wir stark! (Thomas P. Menzel) +++

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