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Am 1. Advent 2020: Licht am Ende des Corona-Tunnels!
29.11.20 - Die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten haben getagt, und ihre Corona-Beschlüsse am vergangenen Mittwoch gefasst. Auch wenn diese Runde im Grundgesetz nicht vorgesehen ist, hat sie sich zum zentralen Gremium in der Pandemie entwickelt - mit allerdings wechselhafter Erfolgsbilanz. Mit leiser Ironie lautet das Fazit der jüngsten Beschlüsse: Der Berg kreißte und gebar eine Maus.
Die Einschränkungen, die vielfach den Charakter von Ermahnungen oder lediglich flehentlich vorgetragenen Bitten haben, waren absehbar, und sie fallen eher milde aus.
Der November-Lockdown zeigt Wirkung, aber die fällt schwächer aus als erwartet und erhofft. Wir sind weit entfernt von einer Inzidenz von 50 Neuerkrankungen je 100.000 Einwohner, die im Sommer – wie immer denn diese Zahl zustande kam – noch als rote Linie galt.
Heute ist der erste Advent, Weihnachten nur noch gut vier Wochen entfernt. Alles scheint darauf ausgerichtet, das Fest irgendwie zu "retten." Ob das gelingen wird, ist allerdings fraglich. Die Umfragen zeigen aber auch, dass die Menschen im Land schon weiter sind als viele in der Politik meinen. Von der Vorstellung, Weihnachten im großen Kreis zu feiern, hat sich die Mehrzahl der Deutschen bereits verabschiedet.
Trefflich lässt sich darüber streiten, ob die Lockerungen zu Weihnachten sinnvoll sein werden. Weihnachten als das Fest der Liebe sei ohnehin eine romantisierte Phantasie, wenden die einen ein. Andere halten die Heraushebung eines christlichen Festes für diskriminierend gegenüber Bevölkerungsgruppen mit gar keinem oder einem anderen religiösen Bekenntnis. Aus naturwissenschaftlicher Sicht wiederum wäre in dieser Debatte lediglich einzuwenden, dass das Virus keiner Konfession angehört und über Weihnachten nicht pausieren wird. Die Gefahr ist groß, dass die vielen Kontakte, die über die Weihnachtstage zu erwarten sein werden, der Pandemie einen neuen Schub verleihen werden. Vergessen wir nicht: Wir als Menschen sind der Wirt. Wir allein sind das essentielle Element und mit unserem Verhalten der treibende Faktor des Infektionsgeschehens. Und es geht ja nicht nur um die Weihnachtstage, an denen es schon meist nicht bei einer Stillen Nacht bleibt, sondern um auch Silvester, das bei uns eher feucht-fröhlich und mit Feuerwerk begangen wird. Das Virus wird es freuen. So viel zum Thema Lockerungen über die Feiertage.
Auch wenn wir mittlerweile die eine oder andere Lektion gelernt haben und damit das Schlimmste verhindert haben -wir hören auf die Wissenschaft und wir appellieren erfolgreich an die Solidarität in der Bevölkerung – ist es dennoch schwer zu verstehen, dass wir beinahe ein Jahr, nachdem das Virus in die Welt gekommen war, noch immer keine überzeugenden Konzepte entwickelt haben, wie wir den Schulunterricht aufrechterhalten und zugleich so organisieren, dass möglichst wenige Infektionsrisiken von ihm ausgehen.
Und mit welcher Berechtigung zwingen wir auf der einen Seite unter Hinweis auf den vorbeugenden Infektionsschutz ungezählte Selbständige und Kulturschaffende in eine vielfach wohl existenzvernichtende Krise, während Menschen mit lebenslanger Beschäftigungsgarantie selbst der Erwerb geeigneter Schutzartikel oder der Einsatz ihrer privaten PCs für die Erfüllung ihrer dienstlichen Pflichten unzumutbar erscheint.
Die Politik dafür zu kritisieren ist einfach. Tatsächlich sind die Werkzeuge der Politik – das harte Verhandeln, das Durchsetzen und Ausgleichen von Interessen, das Finden von guten Kompromissen – für den Umgang mit der Pandemie nicht die besten. Das Virus lässt nicht mit sich verhandeln und macht auch keine Deals, auch nicht in Amerika. Der wissenschaftliche Ansatz wird der Herausforderung da schon eher gerecht. Systematisch Strategien zu entwickeln, zu implementieren und zu überprüfen, sie dann zu korrigieren oder zu verwerfen.
Haben wir doch gemacht, mag man da einwenden. Und im Vergleich mit unseren europäischen Nachbarn stehen wir doch gut da. Das stimmt schon, ist aber auch nur eine Frage der Perspektive. Weiten wir den Blick und schauen beispielsweise nach Ostasien, wird schnell klar, dass Deutschland allenfalls der Tabellenführer in der Regionalliga ist.
In einem Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung beschreiben drei Geisteswissenschaftler treffend wie "… wie glücklos der Westen und wie erfolgreich Ostasien agiert. Wie oft hat man gelesen, Europa müsste von Taiwan oder Südkorea lernen. Getan aber hat sich wenig. Wo liegen die Gründe?"
Tatsache ist es, heißt es in dem Beitrag, dass ostasiatische Gesellschaften weitgehend zur Normalität zurückgekehrt sind. Seit Beginn der Pandemie sind in Taiwan sieben Menschen an COVID-19 gestorben. Seit mehr als 200 Tagen gibt es keine Neuansteckungen mehr. Südkorea zählt täglich 100 Neuinfektionen. Vietnam weist 35 Todesfälle im Zusammenhang mit der Seuche aus, während China zu einem normalen Leben zurückgekehrt ist und sich abermals als die Konjunkturlokomotive erweist, die die Weltwirtschaft aus dem Sumpf zieht wie schon nach der Finanzkrise 2008/09.
Die Regierungen in Ostasien haben sich – offenbar weithin im Konsens mit ihrer Bevölkerung – darauf konzentriert, die Glutnester der Pandemie auszutreten. Wir im Westen denken, ist das Virus einmal in der Welt, dann wird es dort bleiben. Die Menschen in Fernost denken und handeln anders. Sie glauben, das Virus beherrschen zu können, - auch mit modernen Technologien wie der IT und dem Smartphone, mit denen sich Infektionsketten unverzüglich aufdecken und effektiv unterbrechen lassen.
Die Impfung kommt!
Nein, wir müssen nicht das politische System Chinas kopieren. Aber nur, weil eine erfolgreiche Strategie gegen die Pandemie in China gebahnt und eingeschlagen wird, ist sie deshalb nicht schlecht. Es ist schon auf eine unentschuldbare Weise ignorant, mit welchem kulturellen Hochmut wir die Erfolge Ostasiens im Kampf gegen Corona nicht einmal zur Kenntnis nehmen wollen.
Wir nehmen statt dessen tausende von Toten und unabsehbare Schäden für unsere Wirtschaft mit allen möglichen politischen Implikationen in Kauf, weil wir nicht den Mut haben, eine wirklich wirksame Corona-Warn-App zumindest innerhalb der EU aufzubauen und auszurollen. Es ist paradox: Millionen Deutsche und Europäer geben ihre Gesundheitsdaten über irgendeine App an irgendeinen Big-Data-Sammler, ohne einen Gedanken darauf zu verwenden, was dieser wohl mit den Daten macht. Aber als Bürger eines demokratischen Landes mit Parlamenten, Überwachungsinstanzen und einer funktionierenden Verwaltungsgerichtsbarkeit haben wir – trotz Europäischer Datenschutzgrundverordnung – Angst vor einer funktionierenden Corona-App, die Leben und Wohlstand wirksam schützen könnte.
Die deutsche App wurde bisher von mehr als 22 Millionen Nutzern runtergeladen, also nur von gut einem Viertel der Deutschen. Und wie diese (wenigen) Nutzer mit der App umgehen, dass wissen nur sie selbst. Jeder einzelne für sich.
Und doch gibt es bei allen Unzulänglichkeiten eine neue Perspektive, die nicht zuletzt in Deutschland entwickelt wurde: Die Impfung kommt.
Die Vorbereitungen laufen, in den Städten und den Landkreisen, in den Krankenhäusern. Selbst wenn sich nur 60 Prozent der Menschen in Deutschland impfen lassen wollen, werden die Dimensionen gewaltig. Nach derzeitigem Stand sind zwei Impfungen im Abstand von drei Wochen erforderlich. Das sind 100 Millionen Injektionen in 50 Millionen Oberarme. Es wird die größte Impfaktion in der Geschichte, weltweit.
In Hessen werden 30 Impfzentren eingerichtet. Der Landkreis Fulda wurde von der Landesregierung beauftragt, ein Impfzentrum für die Region aufzubauen.
Bei uns in Fulda wird – so viel ist schon klar – die Waideshalle des Kongress- und Tagungshotels Esperanto das Impfzentrum des Landkreises. Die Halle bietet viel Platz, sie ist gut zu erreichen, und ausreichend Parkplätze stehen zur Verfügung. Auch die technischen Voraussetzungen für die medizinische Versorgung sind vorhanden.
Für die Vorbereitung ist nicht viel Zeit vorgesehen, schon am 11. Dezember soll das Impfzentrum fertig sein, damit noch vor Weihnachten – möglicherweise schon ab dem 15. Dezember – mit den Impfungen begonnen werden kann. Die werden sich dann wohl über neun Monate erstrecken. Dafür soll an sieben Tagen in der Woche, von sieben bis 22 Uhr, geimpft werden, auf Einladung zu einem festen Termin und selbstverständlich freiwillig.
Neben dem eigentlichen Impfzentrum wird auch in den Krankenhäusern geimpft werden. Dort werden allerdings nur die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter versorgt. Ihnen wird die Impfung mit als Ersten angeboten werden. Für Impfungen in Alten- und Pflegeheimen wird es darüber hinaus mobile Impfteams geben, die in die Einrichtungen gehen und die Bewohner vor Ort impfen werden.
Die dafür erforderlichen Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte, Medizinische Fachangestellte und Verwaltungspersonal zu finden und für die nächsten neun Monate dort zum Einsatz zu bringen wird weit schwieriger werden, als die Halle einzurichten. Es wird auch hier wieder auf Solidarität und Arbeitsteilung ankommen. Die ersten Gespräche haben bereits stattgefunden. Ich bin zuversichtlich, dass wir in Fulda auch diese Herausforderung gemeinschaftlich bewältigen werden.
Mit der Impfung gegen SARS-CoV-2 wird tatsächlich "Geschichte geschrieben".
Noch nie wurde in so kurzer Zeit ein Impfstoff gegen eine neue Erkrankung entwickelt, der dann auch noch weltweit in einer unvorstellbaren Größenordnung zum Einsatz kommen soll. Mehrere Milliarden Dosen sollen dafür produziert werden. Aber gerade die Geschwindigkeit der Entwicklung wirft die eine oder Frage auf.
Ist die Impfung wirklich sicher, und wird die Wirksamkeit ausreichend und langanhaltend sein? Von den fast 200 verschiedenen Impfstoffen, die derzeit weltweit getestet werden, sind derzeit zwei im Fokus der Öffentlichkeit. Einer davon wurde in Deutschland entwickelt.
Die ersten Studien mit dem Impfstoff "BNT162b1" der Firmen Biontech/Pfizer wurden im April dieses Jahres begonnen. Die Ergebnisse zeigen eine sehr gute Wirksamkeit. Der Schutz setzt demnach etwa 28 Tage nach der ersten der zwei im Abstand von drei Wochen erforderlichen Impfungen ein. Nebenwirkungen waren mild und eher selten.
Soweit so gut.
Erwartungsgemäß wird im weiteren Verlauf der Impfungen, wenn immer mehr Menschen geimpft sind, auch die eine oder andere seltene Nebenwirkung auftreten. Tatsächlich sind Impfungen sicher, aber ein gewisses Restrisiko besteht, keine Frage.An dieser Stelle sollte dann der Verstand einsetzen: Es gilt nämlich abzuwägen zwischen dem Risiko, einen Schaden durch die Impfung zu erleiden, und dem Risiko durch die Erkrankung selbst zu Schaden zu kommen. Sich dabei auf das Bauchgefühl zu verlassen, ist keine so gute Idee. Die vernünftige Antwort kann nur lauten: Ich lasse mich impfen.
Aber das ist wohl zu einfach gedacht, denn dann hätten wir hierzulande auch kein Problem mit Impfungen gegen andere Erkrankungen, wie beispielsweise die Masern.
Die gute Nachricht für die Corona-Pandemie aber lautet: Nicht alle müssen vernünftig sein und mitmachen. Wenn sechzig bis siebzig Prozent der Bevölkerung dabei sind, dann werden auch die anderen geschützt. Die Herdenimmunität entzieht dem Virus die Grundlage für die weitere Vermehrung. Mal wieder ein Beispiel dafür, dass Solidarität manchmal eine Einbahnstraße ist.
Und ein Blick in die Krankenhäuser in Deutschland und auch bei uns in Fulda zeigt, dass die Impfung wirklich eine gute Nachricht ist. Die Intensivstationen sind voll, auch bei uns im Klinikum. Mehr als die Hälfte der Patienten auf den Intensivstationen sind COVID-Patienten, die beatmet werden. Wenn die Behandlung im künstlichen Koma erfolgreich ist, dauert sie im Durchschnitt fast vier Wochen. Im Rhein-Main-Gebiet ist die Situation noch deutlich schwieriger, in den letzten drei Wochen haben wir nahezu 70 Patienten nach Nord- und Osthessen übernommen.
Ein schönes Beispiel für die gute Zusammenarbeit in Hessen, die über den Planungsstab der großen Krankenhäuser gut und kollegial organisiert wird. Auch in Osthessen läuft die Zusammenarbeit zwischen den Krankenhäusern, den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten in den Praxen und den Behörden nach wie vor sehr gut. Aber so langsam kommen auch wir an unsere Grenzen. Insbesondere krankheitsbedingte Ausfälle von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Krankenhäusern machen uns zu schaffen.
Und deshalb sollten wir auch weiterhin alles tun, damit uns das pandemische Geschehen nicht vollends entgleiten wird in diesem Winter. Das wäre wirklich schade. Denn COVID-19 fordert Opfer ein. Etwa 400 Menschen starben jüngst am Tag mit oder an der Seuche. Das sind mehr Opfer als bei einem Flugzeugabsturz – und die einen sind ähnlich vermeidbar wie anderen, wie der Vergleich mit Ostasien beweist.
Jeder und jede von uns kann etwas tun. Aus eigener Überzeugung. Ohne den Druck aus dem Bundeskanzleramt oder der Landeshauptstadt, als freie Bürger in einem freien Land.
Traurig und schade wäre ein Entgleiten der Pandemie auch, weil eine Besserung der Lage durch die Impfungen in Sicht ist. Wir sehen Licht am Ende des Tunnels. Wir entscheiden in den kommenden Wochen, ob es das einer strahlenden Zukunft ohne COVID-19 sein wird, oder ob es die Lichter des Gegenzugs sind, in den wir noch im Dezember hineinlaufen werden. (Thomas P. Menzel) +++