Anna Litvin, Jutta Hamberger, Bella Gusman und Roman Melamed - Fotos: Martin Engel

FULDA O|N-Serie über Jüdische Feiertage

Schawuot – das Fest der Tora - Aus Liebe zu Gott nach seinen Geboten leben

14.06.24 - Das Wochenfest Schawuot findet genau sieben Wochen nach Pessach statt, in diesem Jahr wurde es am 12./13. Juni gefeiert (zwei Tage in der Diaspora, in Israel selbst nur am 12. Juni). An Schawuot feiern Juden weltweit, dass sie die Tora erhalten haben. Die Tora – der Name bedeutet Lehre – und mit ihr die 10 Gebote, wird in der Wüste empfangen. Das ist kein zufälliger Ort.


Die Wüste als heiliger Ort

Pessach und Schawuot stehen in einem tiefen, inneren Zusammenhang: Pessach feiert die physische Befreiung der Juden aus ägyptischer Sklaverei, Schawuot ihre geistige Befreiung durch den Bund mit Gott und die Übergabe der Tora. Die sieben Wochen vor Schawuot in der Wüste kann man als Lernzeit auffassen, in der die Israeliten sich auf den Empfang der Tora vorbereiteten.

Zu Schawuot wird die Synagoge mit bunten Blumen geschmückt. Bella Gusman prüft den ...

: Alles ist für Schawuot vorbereitet. Die Synagoge ist mit Blumen geschmückt, die ...

Roman Melamed legt letzte Hand an

Die Wüste ist eine immense Herausforderung. Für Juden wie Christen ist sie positiv besetzt, ist sie doch ein Ort, der wegen seiner Kargheit zur Besinnung auf sich selbst zwingt und so Persönlichkeit und Charakter formt. In der Wüste gibt es wenig visuelle Ablenkung, man ist auf sich selbst zurückgeworfen. Das Judentum sucht keine Bilder für Gott, Göttlichkeit liegt im Hören der göttlichen Botschaft. Das hebräische Wort "midbar" (Wüste) ist sprachlich nahe an "medaber" (sprechen) – Gott zeigt sich uns, indem er mit uns spricht. Das ist ein abstraktes Konzept im Gegensatz zu Symbolen und Bildern, eines, das Kommunikation verlangt. Deshalb wird an Schawuot jedes Jahr aufs Neue der Empfang der Tora gefeiert. Jedes Jahr aufs Neue muss man sich der Tora als würdig erweisen, so bestätigt man den am Berg Sinai geschmiedeten Bund.

Der israelische Schriftsteller Chaim Noll sagte einmal, für Christen sei die Wüste ein Ort der Inspiration, für Juden ein heiliger Ort. Heilig deshalb, weil Gott sich dort seinem Volk offenbart und ihm die Tora übergeben hat. Zu diesem Zeitpunkt hatte das jüdische Volk noch kein eigenes Land – es akzeptierte die Tora also, bevor es Israel erreichte. Doron Rubin schrieb in der Jüdischen Allgemeine 05/23, dass dies der Grund dafür sei, warum es den Juden jahrhundertelang gelang, ohne eigenen Staat zu überleben – denn die Gesetze der Tora galten von Anfang an und unabhängig von einem Land.

Gesetze und ein darauf basierendes Rechtssystem prägen moderne Demokratien, sie sind zentral als Grundlage des Miteinanders. In Deutschland haben wir gerade erst den 75. Geburtstag des Grundgesetzes gefeiert – ohne das die Entwicklung Deutschlands nach 1945 so nie möglich gewesen wäre. Das Grundgesetz wie die Gesetze der Tora sind keine Selbstverständlichkeit – man muss sie sich immer wieder zu eigen machen.

Der Tora-Schrein im Synagogenraum

Ein Bild, das die Kinder der Gemeinde gemalt haben – passt es nicht wunderbar zu Schawuot? ...

Anna Litvin bringt eine Vase mit Blumen

Von Gott und den Menschen

"Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Du sollst dir kein Bildnis machen…", heißt es im zweiten Gebot (Zählung nach jüdischer Tradition, im Christentum ist dies das erste Gebot). In einer Zeit wie der unseren, in der wir durch wahre Bilderfluten schier erschlagen werden, wirkt dieses Gebot besonders streng und geradezu archaisch, und hat doch einen tiefen Sinn. Gott ist immer größer als jedes Bild, in dem man ihn festhalten oder festlegen könnte. Deshalb wird er durch das Wort vermittelt. Es verwundert nicht, dass das spirituellste aller Evangelien, das Johannesevangelium, genau diesen Gedanken gleich im ersten Vers aufgreift: "Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort."

"Wir sagen nicht, wir haben die Tora bekommen, wir sagen, wir bekommen die Tora", – so erklärte es mir Roman Melamed. Das Judentum geht davon aus, dass der Mensch aus Liebe zu Gott nach seinen Geboten leben will. Im Judentum ist die Haltung des Menschen zu Gott genauso wichtig wie die Haltung zu den Mitmenschen.

Über dem Eingang zum Synagogenraum steht dieser Spruch: Wie schön sind Deine Zelte, ...

An Schawuot wird nur Milchiges gegessen, und Obst

In Vorfreude auf Schawuot – Bella Gusman

Das Fest der Ernte

An Schawuot wird traditionell das Buch Rut gelesen, denn seine Themen passen besonders gut zu diesem Feiertag. Das Buch handelt von einer starken und selbstbewussten Frau aus Moabit, die nach dem Tod ihres Mannes ihrer israelitischen Schwiegermutter Naomi mit den Worten folgt: "Wohin du gehst, werde ich gehen, wo du bleibst, werde ich bleiben, dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott." Niemand zwingt sie zu dieser Entscheidung, sie trifft sie aus freien Stücken. "Es geht nicht um die Herkunft – Rut war eine Ausländerin, beherrschte die Sprache vielleicht nicht so gut, und entschied sich doch für den Gott Abrahams. Das zeigt uns, es geht um die Haltung", so Roman Melamed.

Die Verbindung zwischen Schawuot und Rut ist eng. Die Geschichte Ruts spielt um die Zeit der Getreideernte – und Schawuot ist ja auch das Erntefest. So wie Rut freiwillig zum jüdischen Glauben konvertiert, konvertiert das gesamte israelitische Volk zum Judentum in dem Moment, als es die Tora als sein Gesetz empfängt. Und last but not least: Ruts Nachfahr David wird an Schawuot geboren, und stirbt auch an Schawuot.

Die Tora, das heilige Buch der Juden – hier in einer russisch-hebräischen Ausgabe ...

Der Anfang des Buch Rut aus der Tora

Bella Gusman und Jutta Hamberger im Gespräch

Morgengebet und Jiskor

In diesem Jahr feiere ich das Morgengebet mit, das "Schacharit". Die Männer tragen die Kippa, und zum Morgengebet wie immer auch den Tallit, den jüdischen Gebetsschal. Zentral ist das "Schma Jisrael" – so etwas wie das Jüdische Glaubensbekenntnis, eines der bekanntesten Gebete des Judentums. Genauso wichtig ist das "Amida"-Gebet, das alle still für sich beten. Es ist eine Folge von 19 Segenssprüchen – thematisch kreisen sie um Lob, Bitten und Dank. Dann folgt ein Gesundheitsgebet, in dem aller gedacht wird, denen es nicht gut geht. Jede/r wird namentlich genannt.

Nie vergessen, wo man ist (Fulda) – und wo der Sehnsuchtsort im Heiligen Land ist (Jerusalem). ...

Überall bunte Gerbera- Blumensträuße.

Überall im Synagogenraum stehen fröhlich-bunte Blumensträuße

Erstmals erlebe ich dann das "Jiskor", das Gebet, in dem man der Verstorbenen gedenkt. Dieses Gebet wird viermal im Jahr gebetet, an Jom Kippur, Schmini Azeret, Pessach und Schawuot. Zunächst wird der Eltern gedacht, erst der Väter, dann der Mütter. Gemeindemitglieder, deren Väter oder Mütter noch leben, verlassen für diesen Teil des Jiskor die Synagoge. Warum? Nun, auch im Judentum gibt es Bräuche, die irgendwo zwischen Aberglauben und Glauben liegen. Man sagt, auf diese Weise entgehe man dem "bösen Auge", dem möglichen Neid derjenigen, deren Eltern gestorben sind. Als der Mütter gedacht wird, bin ich wieder dabei und sage für meine Mutter "Liselotte Bat Avraham Avinu". Bei jüdischen Namen wird an den Namen des Verstorbenen der Vatersname angehängt, bei allen anderen der Ausspruch "Bat/Ben Avraham Avinu" (= Tochter / Sohn Abrahams). Dann wird der verstorbenen Männer und Frauen gedacht. Fast alle Gemeindemitglieder haben Zettel dabei, auf denen sie die Namen ihrer verstorbenen Liebsten notiert haben. In diesem Jahr, nach dem erschütternden Anschlag der Hamas, beten wir auch für die gefallenen Soldaten der israelischen Armee.

Mit den Gebeten "En Kelohenu" (Niemand ist wie unser Gott") und "Alenu" (ein Preisgebet) beschließen wir das Morgengebet.

Das Jüdische Gemeindezentrum in der Von-Schildeck-Straße in Fulda

Milchiges zum Fest

Kein jüdisches Fest ohne Speisevorschriften! Gegessen wird an Schawuot vor allem Milchiges – Käsekuchen, Blintze (kleine Pfannekuchen), Eis und Honig. Warum es Milchiges ist, dafür gibt es unterschiedliche Erklärungen. "Ich mag die Erklärung nicht, dass die Juden bei der Übergabe der Tora einfach noch nicht wussten, wie man Speisen koscher zubereitet und sich deshalb an Milchiges, Obst und Gemüse hielten", so Roman Melamed. Ihn überzeuge eine aus der Kabbala stammende Erklärung mehr. Das hebräische Wort für Milch ("Chalaw") habe einen Zahlenwert von vierzig und erinnere so die vierzig Tage und Nächte, die Moses auf dem Berg Sinai verbrachte.

Fröhlich, beschwingt und in jeder Hinsicht gestärkt gehen die Gemeindemitglieder nach Hause. Sie feiern die Tora, die nicht nur eine Religion begründet hat, sondern auch identitätsstiftend ist für Juden in aller Welt. Schawuot Sameach!

Nachbemerkung: Alle Fotos zu Schawuot entstanden vor Beginn des Feiertags, denn an diesem wie am Sabbat darf man nicht fotografieren, wenn man das Sabbat-Gebot respektiert. (Jutta Hamberger) +++

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