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„Wir sind ein Volk“: Trabis bahnen sich, begleitet von Jubelrufen, einen Weg in Richtung Westen - Foto: Archiv Museum Vacha

BAD HERSFELD 25 Jahre Mauerfall (11)

Vier Tage im November 1989 - Das Tagebuch von Hans-Otto KURZ

09.11.14 - 9. November 1989: Die Berliner Mauer - das abschreckendste Symbol des Ost-West-Konfliktes, das für ein geteiltes Deutschland stand, fällt. Grenzenloser Jubel. Menschen, die mehr als ein Vierteljahrhundert voneinander getrennt waren, liegen sich plötzlich in den Armen. Die Ereignisse überschlagen sich. So auch im Landkreis Hersfeld-Rotenburg, dem früheren Zonenrandgebiet. „Einige Begebenheiten und Vorgänge an jenen vier Tagen im November 1989 - abseits von den bereits mehrfach öffentlich dargestellten Abläufen – verdienen es meines Erachtens, geschildert und festgehalten zu werden“, erläutert Hans-Otto Kurz, Zeitzeuge und damaliger Büroleiter des Bad Hersfelder Landratsamtes, der seine Erlebnisse stichwortartig in einem Tagebuch aufzeichnete.

Donnerstag, 9. November 1989:

Gegen 17.00 Uhr Rückfahrt von einer um 15.00 Uhr in Schenklengsfeld stattgefundenen Beerdigung von Willi B. (früherer Freund und Nachbar, Jahrgang 1940). Während der Fahrt: zahlreiche Informationen und aktuelle Radio-Meldungen aus Ost-Berlin und anderen DDR-Städten. Im Landratsamt Schreibtisch „aufgearbeitet“, gegen 18.30 Uhr nach Hause gefahren. Ziel: Umziehen zur Teilnahme um 20.00 Uhr an Sparkassen-Vortrag (Dr. Theo Sommer, Chefredakteur „Die Zeit“) zu dem Thema "Was ist des Deutschen Vaterland?" Zunächst sensationelle Radio-Meldungen, dann Fernsehberichte: Politbüromitglied/Sekretär des Zentral-Komitees für Informationswesen und Medienpolitik, Günter Schabowski, gibt in einer Pressekonferenz Beschluss des DDR-Ministerrates bekannt: sofortige Grenzöffnung, großzügige Reiseerleichterungen [...]. Verzicht auf Besuch des Sparkassen-Forums, Fernseh-Abend!

Freitag, 10. November 1989:

Ereignisse und aktuelle Meldungen überschlagen sich. Sondersitzungen von politischen Gremien in Ost und West. Zahlreiche Fax-Eingänge im Landratsamt betreff Begrüßungsgeld. Anweisungen des Landes zur Auszahlung und zum Erstattungsverfahren (Anm.: Ausgezahlte Beträge wurden vom Bund erstattet) verlangen organisatorische Maßnahmen. Weiterleitung der Landes-Anweisungen durch Sozialamt an die für die Auszahlung zuständigen Gemeinden/Städte per Boten, Telefon oder durch Fax. Spät abends noch einmal im Landratsamt (mit Sohn Karsten), Situation auf den Straßen ruhig und normal. Fax-Gerät auf neue Eingänge und Funktionsfähigkeit geprüft (Anm.: Fax-Technik war noch relativ neu und anfällig). Im Hersfelder Stadtgebiet einzelne DDR-Pkw - Trabbi und Wartburg - gesichtet. Frage: „Was bringen die kommenden Stunden, was bringen die vor uns liegenden Tage und Wochen [...] !?“

Samstag, 11. November 1989:

Gegen 7.00 Uhr Anruf von Hausmeister Richard F., Minuten später Anruf auch von der Polizei: „DDR-Leute stehen Schlange, warten auf Auszahlung des Begrüßungsgeldes [...]“.
Telefonat mit Sozialamtsleiter Hans Sch.. Er meint, „dass die Gemeinden für die Auszahlung zuständig seien und dies daher auch alleine machen sollten [...]“.
Fahrt nach Bebra. Menschenströme vom Bahnhof zum Rathaus. Es wird deutlich: Begrüßungsgeld kann nicht nebenbei und nicht vorübergehend nur von den kreisangehörigen Städten oder Gemeinden ausgezahlt werden.
Rückfahrt nach Bad Hersfeld, Sch. eingetroffen. Wir entscheiden. „Begrüßungsgeld-Auszahlungsstelle-Kreis“ wird unverzüglich eingerichtet! Telefonische „Eilt-Aktivierung“ insbesondere von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hauptamtes, der Kreiskasse und des Sozialamtes.
Improvisierte Bearbeitungsstelle im Flur des Erdgeschosses eingerichtet, Auszahlung beginnt bereits ab 8.45 Uhr – nach Aushändigung der Anträge im Vorraum, Bearbeitung im Flur, Auszahlung am Kassenschalter. Telefonzentrale besetzt, weit über 15 Mitarbeiter im Einsatz. Cola an DDR-Bürger in Mengen [...].
Barkassenbestand der Kreiskasse und auch die von Mitarbeitern vorgelegten Beträge rasch verbraucht. Geld muss her! Anruf bei Sparkassendirektor Karl K., Zusage: „[...] größere Geldsumme kommt baldigst!“. Gewartet. Plötzlich – in der Menschenmenge, die sich von den Landratsamts-Parkplätzen zur Stadt (und umgekehrt) bewegt, stadtbekannter Hersfelder Einwohner „schreitet“ gemächlich zum Eingang Landratsamt. Es ist Sparkassenmitarbeiter H., sonst an der Barkasse der Bad Hersfelder Sparkassen-Hauptstelle tätig (Anm.: Damals gab es keine Geld-Automaten). Er kommt in Freizeitkleidung und geht mit sichtbar gut gefüllter Plastiktüte recht unauffällig zum Landratsamt-Eingang.
Und schon waren wir wieder flüssig ...!
Kaum Gelegenheit für Gespräche und Diskussionen mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern über die neue Lage; es steht keine Minute zur Verfügung. Aber alle spüren: Heute und hier geschieht etwas Besonderes, etwas Einmaliges. Heute beginnt eine neue Zeit – nichts wird mehr so sein, wie es einst war [...]!
Kaum Gespräche mit DDR-Bürgern möglich. Deren Interesse ist auf die Auszahlung des Begrüßungsgeldes gerichtet. Recht knappe Aussagen und kurze Antworten auf Fragen. Stets sind sie darauf bedacht, dass ungebetene Zuhörer ihre meist system-kritischen Äußerungen und Antworten nicht mithören können.
Erst am Spätnachmittag lässt der Andrang nach. Weil offensichtlich zahlreiche DDR-Bürger, teils waren sie mit Kindern und Säuglingen angereist, heute nicht wieder zurück in die DDR fahren wollen, Beratung und Abstimmung mit Polizei und Deutschem Roten Kreuz.
„Letzte Herberge“ im Kreistagssitzungssaal und in Nebenräumen als Notunterkunft sowie mit Still- und Wickelmöglichkeit eingerichtet. Aufsicht, Nachtwache mit gut 15 Mitarbeitern aus verschiedenen Verwaltungsbereichen und der Gärtnergruppe mit Schichteinteilung im Einsatz.
Sonntagsdienst für Auszahlungsstelle und für „Sonstiges“ mit über zehn Mitarbeitern sowie zusätzliche Rufbereitschaft organisiert.
Spät abends nach Hause, Ehefrau bei Friedloser Dorfabend. Mit Nachtwache im Kreistagssitzungssaal telefoniert. Ergebnis: Dort sind rd. 80 Personen behelfsmäßig – teilweise sogar auch auf dem Fußboden – untergebracht.
Gegen 22.00 Uhr Anruf vom BGS. Mitteilung: „Grenzöffnungen Philippsthal/Vacha morgen 6.00/7.00 und Obersuhl/Untersuhl gegen 10.00 Uhr sicher zu erwarten [...]“.
Mit Landrat Norbert Kern telefoniert. Trotz Erkrankung will er in Philippsthal und Obersuhl „vor Ort“ dabei sein (Kern: „.[...] Wenn Sie mich nicht mitnehmen, sterbe ich noch heute Nacht!“).
Telefonate mit Zoll Herleshausen und Obersuhl, Bundesgrenzschutz Bad Hersfeld, Polizei, Bürgermeister Schäfer/Philippsthal, Landrat, Landratsfahrer sowie weiteren Mitarbeitern. Treffen 5.30 Uhr im Rathaus, Lagebesprechung mit diversen Teilnehmern vereinbart.

Sonntag, 12. November 1989:

Nach 1.00 Uhr zu Bett, schlecht geschlafen, 4.00 Uhr aufgestanden.
Kurz-Besuch im Kreistagssitzungssaal. Ungläubiges Staunen bei den sich im Halbschlaf befindenden Anwesenden nach Übermittlung der Nachricht über die bevorstehende Grenzöffnung bei Philippsthal und nach dem Hinweis, dass die Heimreise nicht über Herleshausen, sondern über Philippsthal/Vacha angetreten werden kann.
Landrat Kern abgeholt, nach Philippsthal gefahren (begleitet von Sohn Karsten mit Privat-Pkw).
Lagebesprechung im (alten) Philippsthaler Rathaus mit Bürgermeister Schäfer und zahlreichen Vertretern verschiedener Organisationen. Themen waren u.a.: Begrüßungsgeld, Verkehrsregelungen, Versorgung, Busvorhaltung, Feuerwehr, Rettungsdienst.
Anschließend zur Grenze. Unglaubliche Bilder, Menschen und Baumaschinen, gespenstische Atmosphäre, Jubel und Trubel – Stimmung euphorisch.
Ein historischer Tag mit unvergesslichen Erlebnissen für Menschen aus Ost und West hatte begonnen! [...].
Es folgte gegen 7.45 Uhr die spektakulär anmutende Grenzöffnung bei Philippsthal/Vacha mit Begrüßung des stellvertretenden Vorsitzenden des Rates des Kreis Bad Salzungen, Werner B. u. a. durch Bürgermeister Fritz Schäfer/Philippsthal und Landrat Norbert Kern. Nach Grenzkontrolle und Überschreitung der Werrabrücke in kleiner Gruppe (ca. 6 Personen), dann die Besichtigung und Führung im Rathaus Vacha durch den Vorsitzenden des Rates der Stadt Vacha.
Dann: Fahrt zur A 4 bei Wildeck-Obersuhl – Grenzöffnung gegen 10.00 Uhr (auf Einzelheiten über die Grenzöffnungen wird in diesem Zusammenhang verzichtet).

(Aus: „Von der Zonengrenze zur Wiedervereinigung: Leben an und mit der Grenze im Kreis Hersfeld-Rotenburg“, Dokumentation von Hans-Otto Kurz, in: Hersfelder Geschichtsblätter, Band 4/2010; ISBN: 978-3-925 333-90-3.). +++

Hans-Otto Kurz, ehemaliger Büroleiter des Bad Hersfelder Landratsamtes, erlebte die Grenzöffnung ... Foto: privat

Hersfeld-Rotenburger Delegation zu Besuch in Vacha (v.li.): Roland Hühn (Bürgermeister Heringen), ... Foto: Privatarchiv Bürgermeister a.D. Fritz Schäfer


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