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Meine Kindheitserinnerung - Wenn Freundschaften Grenzen überwinden
04.10.14 - An den 9. November 1989 kann ich mich nicht erinnern. Wie auch? Ich war damals zehn Jahre alt. Die Tage, an denen deutsch-deutsche Geschichte geschrieben wurde, sind mir nur aus unzähligen Fernsehbildern, schriftlichen Abhandlungen und Erzählungen präsent. Allerdings wurde ich in meiner Kindheit mit vielen Begegnungen zwischen „Ost“ und „West“ konfrontiert. Fest in mein Gedächtnis verankert haben sich dabei eher die kleinen Begebenheiten, die leiseren Töne.
Dass mir der Onkel meiner Oma, der im sächsischen Zwickau einen Friseursalon betrieb, im zarten Alter von knapp zwei Jahren meinen ersten Haarschnitt verpasste, weiß ich freilich auch nur von meinen Eltern. Allerdings entsinne ich mich noch genau an diesen eigentümlichen Geruch nach Kunstleder und Braunkohle, von dem immer unser Hausflur erfüllt war, wenn Onkel Heinz und Tante Dorle im Westen zu Besuch waren. Zudem habe ich noch immer sein Schnaufen in den Ohren, wenn er in Walross-Manier die Treppenstufen erklomm, die auf den Dachboden führten, wo sich in jenen Tagen unser Gästezimmer befand.
Richtig spannend gestalteten sich für mich immer die Oster- oder Weihnachtsfeiertage, wenn bei uns die Päckchen von „drüben“ eintrudelten. Meist enthielten diese leckeren Stollen, den Renate, die Cousine meiner Oma gebacken hatte, den obligatorischen Eierlikör, allerlei Handwerkskunst aus dem Erzgebirge – ich denke hierbei insbesondere an Räuchermännchen, die heutzutage einen stolzen Preis haben – sowie Bilderbücher. Der ostdeutschen Kinderlektüre widmete ich mich voller Leidenschaft. Spätestens einen Tag nach dem Auspacken der Geschenke, nervte ich meine Eltern, indem ich pausenlos rezitierte: „Ännchen, liebes Ännchen, bist du gesund? Wie geht’s deiner Katze, wie geht’s deinem Hund? Sag nur, ich lasse sie grüßen – vom Kopf bis zu den Füßen.“
Überhaupt gab ich so mancher Erfindung aus dem Osten den Vorzug. Heiß und innig liebte ich das Ost-Sandmännchen und seinen Abendgruß. Pittiplatsch und Schnatterinchen sowie Frau Elster und Herr Fuchs waren die Helden meiner Kindheit. Wie gut, dass sich Bad Hersfeld im Zonenrandgebiet befand und wir daher Deutschen Fernsehfunk empfangen konnten... Vor dem West-Sandmännchen, das auf einer Wolke oder einem Fluggerät eingeschwebt kam, hatte ich immer ein wenig Angst. Seine Worte „Nun, liebe Kinder, gebt fein acht, ich hab’ euch etwas mitgebracht“ klangen mir viel zu respekteinflößend.
Im Spätherbst 1989 kannte der Jubel bei uns zu Hause keine Grenzen, als Renate und Wilfried, unsere Verwandtschaft aus Thurm (Mülsen), völlig überraschend mit ihrem Trabi auf unserem Hof vorfuhren. Mit im Gepäck hatten die beiden ein besonders exklusives Mitbringsel - einen Kasten Wernesgrüner-Pils. Leider hatte das kühle Blonde die Autofahrt durch die eisige Kälte nicht überstanden und war trüb geworden. Mein Onkel Christian, der zufälligerweise aus Frankfurt (Main) zu Besuch war, überredete sogleich unsere Gäste, eine kleine Spritztour mit ihrem Trabi unternehmen zu dürfen.
Nach einer Weile kehrte er lachend zurück: Während der Fahrt durch Asbach hätten ihm völlig fremde Leute fleißig aus ihren Autos zu gewunken und ihn mit einem Hupkonzert begrüßt. Im Frühjahr 1990 durfte ich dann endlich den besten Freund meine Opas kennenlernen: Hans Hilbig und seine Frau Erika hatten von Mülsen St. Jacob die Reise nach Bad Hersfeld angetreten. Herr Hilbig, ein ehemaliger Lehrer, war ein echtes Unikum – und ist das noch heute. Er verpasste mir meine erste Englisch-Lektion. „Steffi, Du weißt schon, dass mein Name aus dem Englischen entsprungen ist“, meinte er zu mir. „Ich denke dabei an hill und big, also an Hügel und groß…“ Hans Hilbig mit seinen pseudo-englischen Redewendungen, wie „How do you do, Mr. Gummischuh?“ oder „Sleep you very well in your Bettgestell“, war mir damals echt suspekt.
Nicht so ganz geheuer war mir auch zumute, als ich mich Ende 1989 unter der Obhut meiner Eltern zum ersten Mal auf ostdeutsches Territorium begab. Eben hatte ich noch voller Stolz den Stempel in meinem Kinderausweis, der von meinem Besuch in Vacha zeugte, beäugt; da klagte ich über Kopfschmerzen aufgrund des „Braunkohleduftes“, der mir in die Nase stieg, während wir die Werrabrücke überschritten. In Vacha angelangt, musterte ich mit erstaunten Augen die Auslage eines Obst- und Gemüsegeschäftes. „Was ist das?“, fragte ich meine Mutter und zeigte auf ein mit dunkler Erde überzogenes Gewächs. „Das sind Schwarzwurzeln“, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen. Nach näherem Betrachten entpuppte sich das Wurzelwerk allerdings als Karotten.
Im Lauf der Zeit - der Wiedervereinigung sei Dank - verwandelte sich ein von braunen Staubschwaden überzogenes Gefilde in eine wahre, aufblühende Schönheit. Wenn ich heute nach Thüringen, Sachsen oder an die Ostsee nach Mecklenburg-Vorpommern fahre, kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, dass wir einst voneinander getrennt waren. Die Begegnungen mit Onkel Heinz und Tante Dorle, Renate und Wilfried sowie mit Familie Hilbig haben mir allerdings bereits im Kindesalter aufgezeigt, dass Freundschaften schwierige Zeiten überdauern und Grenzen überwinden können. Darauf ein Gläschen Eierlikör… (Stefanie Harth) +++