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Vom DDR-Knast bis zur Ausreise - Wie Familie KNORR in den Westen flüchtete
20.10.14 - Von 1961 bis 1988 flüchteten aus der DDR etwa 222.000 Menschen über die deutsch-deutsche Grenze, kauften sich frei oder kehrten von einer genehmigten Reise nicht zurück. Tatsächlich gelang es aber auch rund 383.000 Menschen, legal aus der Deutschen Demokratischen Republik auszureisen. Dazu gehört Familie Knorr aus dem sächsischen Chemnitz. Nach ihrem Ausreiseantrag flüchteten sie in einer Nacht- und Nebelaktion über die damalige Tschechoslowakei nach Hessen, ließen ihre Freunde und Familie zurück und akzeptierten eine unsichere Zukunft - und das alles genau zwei Tage bevor sich die Grenze im November 1989 öffnete.
Olaf und Claudia Knorr haben sich als junge Erwachsene 1982 in einer Discothek in Chemnitz kennengelernt. Er arbeitete als Maler und Tapezierer, sie als Friseurin im elterlichen Betrieb. Olaf Knorr hatte kurz vorher bereits einen Ausreiseantrag gestellt, ihn seiner Freundin zuliebe jedoch erst einmal zurückgenommen. Erst vier Jahre später - nach der Geburt ihrer Tochter Franziska - entschied sich das junge Ehepaar 1986, erneut einen formlosen Antrag auf Ausreise aus der DDR zu stellen.„Man kann ja nicht sagen, dass es einem in der ehemaligen Republik nur schlecht ging", so Olaf Knorr. "Aber ich bin zum Beispiel sehr auto-toll und man hat eben ein bisschen auf BMW, Mercedes und Audi geschielt, auf die D-Mark, Jacobs Krönung und Apfelshampoo – also sind wir eher aus materiellen Gründen ausgereist. Durch Claudias Neurodermitis hatten wir auch die Möglichkeit, die Behörden unter Druck zu setzen und uns wurden auch dadurch, dass wir in einem privaten Betrieb gearbeitet haben (Olaf Knorr hatte zu dieser Zeit bereits eine zweite Lehre als Friseur absolviert), keine großen Steine in den Weg gelegt.“
Seine Frau Claudia hatte vor dem Kennenlernen nie an eine Ausreise gedacht: "Das war für mich nie ein Thema. Aber es gab da in meinem Heimatort Neukirchen ein Zahnarztehepaar, die haben auch die Ausreise beantragt. Da hat man sich gedacht: wenn die wegmachen, warum wir nicht auch. Damals war man eben auch jung und hat sich gar keine Gedanken gemacht über Heimweh, mögliche Gefahren oder so."
Drohung und Einzelhaft: "Ihre Tochter kommt ins Heim"
Das junge Paar wurde alle vier Wochen in den Stadtbezirk West, Abteilung Inneres vorgeladen. Mit ihrem "Übersiedlungsersuchen" - das war die offizielle Terminologie der DDR-Bürokratie - wählten die Knorrs zwar den legalen, aber trotzdem gefährlichen Weg. Oftmals war dieser nämlich mit großen Opfern verbunden, wie Repressalien gegen die Familie, Verlust des Arbeitsplatzes, Überwachungen oder strafrechtlichen Verfolgungen. Dem jungen Paar wurde nach Besuchen einer Demonstration in der Chemnitzer Innenstadt mit Gefängnisstrafe gedroht und damit, ihre kleine Tochter ins Heim zu stecken. Die Genehmigung zum Verlassen der DDR erfolgte erst nach ständigem und hartnäckigem Bekräftigen der Ausreiseabsicht in der Abteilung Inneres. "Da sitzt dann eben so ein typischer Beamter vor einem und der ist erstmal recht freundlich. Aber man hatte natürlich auch einen gewaltigen Respekt, da man vom Hören-Sagen wusste, was die Stasi mit Leuten macht, die sich gegen das System auflehnen. Aber zu uns war man recht freundlich, das muss man schon sagen", so Knorr.
1988 musste der junge Familienvater dann seinen Wehrdienst antreten und kam für achtzehn Monate ins Arbeitslager zum Dienst ohne Waffe. Als er sich weigerte, an einer alten, nicht mehr korrekt funktionierenden Maschine zu arbeiten, kam er für zehn Tage in Einzelhaft: "Die Einzelzelle war neun Fuß mal 16 Fuß - das habe ich mir gemerkt, weil man das jeden Tag gezählt hat. Man durfte sich nicht hinsetzen." Die Pritsche, auf der die Häftlinge schliefen, wurde morgens sechs Uhr hochgeschnallt und abends 22 Uhr wieder runtergeschnallt. Nach fünf Tagen ging es das erste Mal zum Duschen, bewacht von Männern mit Maschinenpistolen. "Nach zehn Tagen kam ich Gott sei Dank aus der Zelle raus. Und dabei habe ich ja nichts Schlechtes gemacht. Ich hatte nur Angst an einer Maschine zu arbeiten, die in meinen Augen nicht mehr in Ordnung war. Und dadurch wurde mein Entschluss auszureisen, natürlich massiv verstärkt. Und dabei war das ja im Vergleich zu anderen nur eine Lappalie, aber das hat schon völlig gereicht", so Knorr.
Flucht bei Nacht und Nebel
Der Entschluss auszureisen, verstärkte sich durch diese traumatische Erfahrung, der neben Olaf Knorr rund 200.000 DDR-Bürger ausgesetzt waren, immer mehr. Als sich die Ausreise der Familie Knorr näherte, wurden die Demonstrationen im "Osten" immer lauter. Im Oktober 1989 waren die Grenzen nach Ungarn und Bayern von der damaligen Tschechei aus schon offen. Im November erhielt die Familie endlich die Zusage zur Ausreise und bekam den sogenannten "Laufzettel". Auf diesem war festgeschrieben, wo man sich an- und abmelden musste. "Darauf wollten wir nicht warten und haben dann in einer Nacht- und Nebelaktion alle Dokumente verbrannt, die keiner sehen sollte, haben unseren Lada vollgeladen und sind am 7. November 1989 über Tschechien nach Neuburg an der Donau geflüchtet", erinnern sich die Knorrs. Familie und Freunde wussten zwar, dass die Ausreise beantragt war, über den tatsächlichen Aufbruch waren aber nur ein Freund im Westen und die Eltern informiert.
Knorrs sind nach Gießen ins Auffanglager gekommen und von dort aus weiter nach Weilburg an der Lahn. Freunde hatten der Familie eine kleine Wohnung besorgt. Neben der sporadisch zusammengestellten Küche gab es dort drei alte Sessel und zwei Stahlbetten, die die Vermieter ihnen überlassen hatten. "Das war natürlich kein Vergleich zu unserer Wohnung in der DDR", so Olaf Knorr. "Aber wir wussten ja, dass wir uns erst einmal einschränken müssen".
Dass sich die Grenze nur zwei Tage nach ihrer nächtlichen Ausreise öffnete, hätten die Knorrs nie für möglich gehalten. "Man hat das zwar wahrgenommen, aber richtig glauben konnte man das im ersten Moment nicht", so Olaf Knorr. Ob ihnen das Schicksal damals einen Streich gespielt hat? "Das haben wir nie so gesehen. Wir waren da, wo wir hinwollten. Wir haben nicht gedacht ’hätten wir doch noch zwei Tage gewartet’. Im Gegenteil: eigentlich war es viel zu spät."
Das Leben heute
Das Paar fing im November 1989 mit 140 D-Mark sein neues Leben in der Bundesrepublik Deutschland an. Nach einem Jahr zogen sie nach Mengerskirchen, wo sie bis heute leben. Die beiden haben ein eigenes Friseurgeschäft, Olaf Knorr arbeitet nebenbei noch als Maler und Lackierer. Claudia Knorrs Eltern sind im Rentenalter nachgekommen. Ihre Tochter Franziska hat bei den Eltern gelernt und lebt nun mit ihrer eigenen Familie in Bayern. Auf die Frage, ob Olaf und Claudia Knorr ihre Ausreise jemals bereut haben, antworten sie wie aus einem Mund: "Nein. Für uns hat sich nicht viel geändert, bis auf den Wohnsitz. So sehen wir das heute. Wir können uns vielleicht ein bisschen mehr leisten."
Das Wagnis hat sich gelohnt. Und auch wenn der Weg einige Hürden barg und die Familie bis zwei Tage vor der Grenzöffnung auf ihre Ausreise warten musste - sie haben ihr Ziel erreicht und sind genau dort, wo sie immer sein wollten. (Anne Baumann) +++